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Channel crossings & UK

Unabhängige Untersuchung der bislang schwersten Havarie

Eröffnungssitzung des Cranston Inquiry am 3. März 2025. (Quelle: https://youtu.be/Hh6Jrw1UD98)

Bei der bislang tödlichsten Havarie auf der Kanalroute starben am 24. November 2021 mindestens 27 Menschen; vier weitere sind seither vermisst, lediglich zwei überlebten. Nach der Havarie wurden gravierende Fehler und Versäumnisse der Rettungsleitstellen bekannt, die auf verschiedenen Ebenen – juristisch und journalistisch, auf britischer und auf französischer Seite – aufgearbeitet wurden und werden. Vom 3. bis 27. März 2025 beschäftigt sich nun in London das Cranston Inquiry, eine öffentliche Untersuchungskommission, mit der Katastrophe.

Über die Havarie am 24. November 2021 haben wir an dieser Stelle wiederholt berichtet. Bereits wenige Tage nach ihrer Rettung hatten die beiden Überlebenden einem irakisch-kurdischen Fernsehsender dargelegt, dass sie stundenlang in der Nähe der Seegrenze ohne Rettung geblieben waren. Zwar standen die Geflüchteten wiederholt in Kontakt zu den Rettungsleistellen auf beiden Seiten des Kanals, doch verwiesen diese jeweils auf die Zuständigkeit der anderen Seite. So verstrichen wertvolle Stunden, in denen die Mehrzahl der Menschen, vielleicht sogar alle, hätten gerettet werden können.

Recherchen etwa von Le Monde erbrachten Belege für fehlerhafte Entscheidungen und gravierendes Fehlverhalten von Bediensteten der französischen Rettungsleitstelle CROSS Gris-Nez. Gegen sieben dort eingesetzte Militärangehörige und fünfzehn mutmaßliche Mitglieder eines Schleusungsnetzwerks wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet.

Auf migrationspolitischer Ebene war die Havarie die Geburtsstunde der sogenannten Calais Group, in der Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Belgien und die Niederlande, Europol, Frontex und die EU-Kommission jährlich zusammenkommen. Die Perspektive ist auf Polizei und Strafverfolgung fokussiert, während die Verbesserung der Seenotrettung, die Eröffnung legaler Alternativen zu Schleusungen und die humanitäre Dauerkrise im nordfranzösischen Küstengebiet schlicht unberücksichtigt blieben.

Die Bedeutung der Cranston Inquiry kann vor diesem Hintergrund nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Untersuchung, ihrem rechlichen Status nach eine Public Inquiry, war am 9. November 2023 durch den damaligen Verkehrsminister und konservativen Abgeordneten Mark Harper im Parlament beantragt worden. In seiner Begründung heißt es, dass „die Rechte der Betroffenen gewahrt bleiben und die Überlebenden und Familienangehörigen der Verstorbenen angehört werden können.“ Am 11. Januar 2024 gab Harper bekannt, dass Sir Ross Cranston den Vorsitz der Untersuchung übernehmen werde. Ausserdem wurde als Aufgabenstellung definiert, „festzustellen, wer die Verstorbenen waren und wann, wo und unter welchen Umständen sie zu Tode gekommen sind“ sowie „zu prüfen, welche weiteren Lehren aus den Ereignissen vom 24. November 2021 gezogen werden können, und gegebenenfalls Empfehlungen abzugeben, um das Risiko eines ähnlichen Ereignisses zu verringern.“ Sehr viel detaillierter ist ein mehrseitiger Fragenkatalog. Er ist erkennbr darauf gerichtet, die rechtliche Situation auf See, die Organisation der zuständigen britischen Behörden, die Einsatzroutinen, die Kommunikation und schließlich das präzise Geschehen am 24. November 2021 aufzuarbeiten.

Ross Cranston, der die Untersuchung leitet und dessen Name sie trägt, ist Professor für Recht an der London School of Economics and Political Science. Er blickt auf eine lange juristische Karriere zurück, u.a. als Richter am High Court of England and Wales und im Kontext internationaler und europäischer Institutionen. 2019 legte er für die Denkfabrik JUSTICE Vorschläge für eine Reform der britischen Asylverfahrensbearbeitung vor, in der er u.a. eine Einschränkung der Berufungsmöglichkeiten vorschlug. Das siebenköpfige Team, das unter seinem Vorsitz die Havarie vom 24. November 2021 aufarbeitet, setzt sich ebenfalls aus Jurist_innen zusammen, die teils mit dem Verkehrsministerium verbunden sind. Wie bei Cranston, liegt ihre Expertise weniger im Bereich der Migration, sondern eher in der Durchführung komplexer Untersuchungen. Die Ergebnisse des bis zum 27. März angesetzten Verfahrens werden dem Verkehrsministerium berichtet und durch dieses veröffentlicht.

Die Untersuchung findet öffentlich statt. Auch die Familien mehrer Opfer kündigten ihre Anwesenheit an. Alle Sitzungen werden auf der mehrsprachigen Website The Cranston Inquiry durch Lifestreams, Videoaufnahmen bzw. Wortprotokolle dokumentiert. Auch ein umfangreiches Eröffnungsstatement der Kanzlei Duncon Lewis Solicitors, die die Hinterbliebenen der Toten vertritt, ist dort einsehbar. Das Dokument enthält eine präzise Rekonstuktion der Ereignisse in der Todesnacht.

Befragung eines der beiden Überlebenden am 4. März 2025. (Quelle: https://youtu.be/c6NiaiAlzYw)

Die Untersuchung begann am 3. März mit dem Eröffnungsstatement der rechtlichen Vertreter_innen der Hinterbliebenen, nach dem dann Vertreter_innen der Maritime and Coastguard Agency, des Innenministeriums und des Verkehrsministeriums Stellung nahmen. Als erster Zeuge wurde am 4. März Issa Mohamed Omar, einer der beiden Überlebenden, angehört. Er schilderte die Gründe seiner Flucht aus Somalia, die Stationen seiner Migration, die erlebte Gewalt und schließlich seine Erlebnisse vor und während der fatalen Bootspassage.

An den folgenden bislang sieben Verhandlungstagen wurden jeweils mehrere Bedienstete der britischen Küstenwache, der Border Force bzw. kooperierender Firmen befragt, darunter auch Personen, die für die Annahme der Notrufe verantwortlich waren. Die französischen Behörden nehmen nicht an der Untersuchung teil, sodass wesentliche Zeugenaussagen, Verantwortlichkeiten und Schuldfragen nicht in gleicher Weise untersucht werden können.

Die nordfranzösische NGO Utopia 56 drückte dennoch hohe Erwartungen aus. „Mehr als drei Jahre nach diesem Drama ist Utopia 56 erleichtert, dass diese Anhörungen endlich stattfinden und einen Schritt in Richtung Wahrheit und hoffentlich auch Gerechtigkeit darstellen. Abgesehen von den unzähligen individuellen Fehlern, die in diesem Fall aufgedeckt wurden, hoffen wir, dass dieses Verfahren die Folgen eines tödlichen politischen Systems aufzeigen kann, das Menschen in Migrationssituationen stigmatisiert und entmenschlicht, ohne Rücksicht auf Menschenleben und einen Rahmen elementarer Werte“, so etwa Nikolai Posner von Utopia 56 in einem Pressestatement. Die Organisation erinnert auch an die soziale Lage des Zeugen Issa Mohamed Omar, der heute „in Frankreich lebt, krank, ohne Papiere, bei Freunden untergebracht und ohne jegliche finanzielle Mittel“.

Die Londoner Untersuchung ist die bislang hochrangigste und detaillierteste Aufarbeitung eines einzelnen katastrophalen Ereignisses auf der Kanalroute. Sie kann also Standards setzen. Doch ist es nicht der einzige Fall, der einer genaueren Aufarbeitung bedürfte. Auch nach dem 24. November 2021 legten Medien, Aktivist_innen und NGOs mehrmals Belege für Versäumnisse bei Rettungsaktionen, aber auch für Risiken erzeugende Polizeiroutinen gegen ablegende Boote, vor. Erst wenige Tage vor Beginn der Londoner Untersuchung belegte Alarmphone mutmaßliche Versäumnisse der französischen Rettungsleitstelle bei einer tödlichen Havarie am 28. Februar 2024.