von Michel Agier
mit Beiträgen von Louis Barda (Médecins du Monde), Véronique Nahoum Grappe (EHESS und LDH), Claire Rodier (Gisti und Migreurop) und Nan Suel (Terre d’errance)
Aus dem Französischen übersetzt von Nicole Guyau und Brigitte Vogt-Klein
Vorbemerkung: Der Text erschien unter dem Titel Personnes migrantes en centres de rétention et campements. Désencamper pour protéger in der Zeitschrift De facto (Nr. 18, April 2020) des Institut Convergences Migrations. Der Anthropologe und Migrationsforscher Michel Agier gibt darin einen Überblick über die Situation in französischen Abschiebegefängnissen, Camps und informellen Siedlungen in der ersten Phase der Corona-Krise Anfang April 2020. Damit stellt er Calais in einen weiten geographischen Kontext und analysiert Prozesse einer temporären, unvollständigen und krisengetriebenen Eröffnung des Zugangs zu Menschenrechten bei gleichzeitiger bzw. verstärkter Exklusion. Für die freundliche Erlaubnis zur Übersetzung ins Deutsche und zur Veröffentlichung an dieser Stelle danken wir dem Autor.
Die Besorgnis erregende Lage in den Abschiebehaftanstalten und den Camps zeigt, wie gefährlich das Leben der Migrant_innen in Camps hinsichtlich des Schutzes ihrer Gesundheit ist. Dies wird indirekt bestätigt durch das „notgedrungene“ Eingreifen des Staates, der den Exilierten während der Pandemie einen teilweisen und vorüber-gehenden Zugang zu den Menschenrechten gewährt.
Wie sieht es aus mit dem confinement (Abschirmung) zum Schutz der Gesundheit für Menschen, die bereits eine erste Art von confinement erleben, sprich deren Gefangensein in Abschiebehaftanstalten, in Hotspots (in Griechenland) oder in den zahlreichen Camps und Bidonvilles (informellen Siedlungen – siehe redaktionelle Anmerkung am Ende des Textes)? An diesen Orten der gesellschaftlichen Abschottung leben viele Menschen zwangsweise „auf engstem Raum und unter besonders gesundheitsgefährdenden Bedingungen“ zusammen, so das gemeinsame Kommuniqué des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte, der Internationalen Organisation für Migration (IOM), des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 31. März 2020. Weiter heißt es in dem Kommuniqué: „Angesichts der tödlichen Folgen, die eine Covid-19-Epidemie unter diesen Umständen nach sich ziehen würde, sollten sie umgehend freigelassen werden.“ Die ersten Anzeichen einer Covid-19-Ausbreitung wurden Anfang April sowohl in den griechischen Hotspots als auch in den französischen Camps und Abschiebehaftanstalten bekannt. Gerade dieser Notfall ist der Grund für diesen Lagebericht, der zusätzlich aufzeigt, wie gefährlich das Leben der Migrant_innen in Camps ist.
Der vorliegende Text ist nicht das Ergebnis einer Vor-Ort-Untersuchung, sondern einer Sammlung von möglichst aktuellen Informationen (Stand Anfang April 2020) von zivilgesellschaftlichen bzw. karitativen Organisationen, die die Migrant_innen in den Abschiebehaftanstalten, den Camps und den Bidonvilles begleiten und unterstützen, hier insbesondere im Pariser Raum sowie in Calais und Umgebung.
Abschiebehaftanstalten, unbegleitete Minderjährige und Asylbewerber
Abschiebehaftanstalten
Die hier eingesperrten Migrant_innen wurden aufgrund mehrerer Gerichtsbeschlüsse freigelassen, denn da keine Abschiebung möglich war, gab es keinen Grund mehr dafür, sie im Wartestatus zu halten. Einzige nennenswerte Ausnahme Ende März: die Abschiebehaftanstalt von Paris-Vincennes mit ca. 50 eingesperrten Personen. Auch wenn ein Rückgang der Zahlen der in Abschiebehaftanstalten eingesperrten Migrant_innen zu verzeichnen ist (insgesamt ca. 120 Personen gegenüber 1.500 Plätzen), kann man feststellen, dass die Behörden nicht bereit sind, eine offizielle Entscheidung, z.B. über die Schließung dieser Anstalten, zu treffen. So ist die Verantwortung für die Freilassung der eingesperrten Migrant_in-nen den sogenannten Juges des libertés et de la détention (JLD; deutsch etwa: Freiheits- und Haftrichter) überlassen worden. Infolge von richterlichen Beschlüssen, die manchmal widersprüchlich waren, haben sich deshalb die Abschiebehaftanstalten allmählich geleert.
Die Schließung der Abschiebehaftanstalten ist offensichtlich eine dringende Notwendigkeit: mehrere Personen pro Zimmer, volle Kantinen, keine Reinigungskräfte mehr wegen der Ausgangsbeschränkungen, weder verfügbare Schutzmasken noch Desinfektionsmittel. Diese Schließung wird von zahlreichen Stellen empfohlen: von dem Défenseur des droits (deutsch etwa: Verteidiger der [Grund-]Rechte), von der contrôleure générale des lieux de privation de liberté (CGLPL; deutsch etwa: Generalinspektorin der Freiheitsentziehungsanstalten), von der EU-Kommissarin für Menschenrechte. Anträge auf Schließung der Abschiebehaftanstalten wurden von mehreren Stellen gestellt: von der Groupe d’information et de soutien aux immigrés (Gisti; deutsch etwa: Informations- und Unterstützungsgruppe für Migrant_innen), der Gewerkschaft der Anwälte Frankreichs, der Cimade (NGO, die sich für die Würde und Rechte der Migrant_innen einsetzt) und dem nationalen Rat der Anwälte Frankreichs. Die Schließung wurde vom Staatsrat abgelehnt. Interessant daran ist, dass im Vorfeld einer Rückkehr zur „Normalität“ die Behörden entschlossen zu sein scheinen, nur diejenigen in Abschiebehaft zu nehmen, die aus dem Gefängnis entlassen wurden – und so das gesamte System nicht in Frage zu stellen. Gleichwohl finden Anfang April Hungerstreiks von „Eingesperrten“ in mehreren Abschiebehaftanstalten statt, z.B. in Mesnil-Amelot und Oissel. Insbesondere in der Letztgenannten erklären die Migrant_innen, dass sie krank seien und Angst hätten.
Asylverfahren
Beinahe alle Verfahren ruhen zurzeit. Die Meldestellen zur Aufnahme der Asylverfahren (Guichets uniques pour demandeurs d’asile, Guda) schließen aus Mangel an Schutzmitteln gegen das Coronavirus und die Anhörungen durch das Office français de protection des réfugiés et apatrides (Ofpra; entspricht dem deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF]) sind erst mal abgesagt und verschoben worden. Erstaunlicherweise wurde bis zum heutigen Tag die Meldepflicht bei der Polizei bzw. der Gendarmerie für diejenigen Asylbewerber aufrechterhalten, denen die Abschiebung in einen anderen EU-Mitgliedstaat im Rahmen des Dubliner Übereinkommens droht. Dies steht im Widerspruch zu den Empfehlungen bezüglich der Ausgangsbeschränkungen und wurde von verschiedenen Hilfsorganisationen und Zeitungen scharf kritisiert.
Unbegleitete Minderjährige
Es besteht ein Widerspruch zwischen den Statements der Behörden auf nationaler Ebene und der Umsetzung der entsprechenden Maßnahmen auf lokaler Ebene. Seit dem 16. März 2020 ruht bis auf weiteres das Verfahren zur Feststellung der Minderjährigkeit und Betreuung durch das Rote Kreuz. Offiziell sollte deren vorübergehende Notaufnahme „über die Polizeireviere“ erfolgen. Tatsache ist aber, dass dies je nach Departement mehr oder weniger schlecht funktioniert. So standen zum Beispiel am 25. März in Paris sieben junge Neuzugewanderte vor geschlossener Tür des Roten Kreuzes und wurden in verschiedene Polizeireviere gebracht, die nichts tun konnten … Die Notaufnahmeeinrichtung ließ sie zunächst warten und empfahl ihnen schließlich, zurück zu den jeweiligen Polizeirevieren zu gehen – letztendlich mussten sie draußen übernachten. Solche Zustände scheinen allgemein üblich zu sein, und es sind in erster Linie die nicht als minderjährig anerkannten Jugendlichen, die im Stich gelassen werden.
Die Camps
In Paris
Was die Migrant_innen betrifft, die auf der Straße und/oder in Camps im Pariser Raum leben (Asylbewerber_innen, die entweder abgelehnt wurden oder einem Dublin-Verfahren unterliegen, oder Neuzugewanderte ohne jeglichen Aufenthaltstitel), ist es wichtig, die jetzige Lage in Anbetracht der letzten Entwicklungen seit Anfang November 2019 zu verstehen. Zu dieser Zeit befanden sich mehr als 3.000 Migrant_innen im Norden von Paris, zwischen der Porte de la Chapelle und der Porte d’Aubervilliers. Diese Situation resultierte aus einem vier Jahre währenden „teuflischen Kreislauf“ von Campbildungen, Räumungen, polizeilichen Vertreibungen, Neubildungen von Camps usw. unter wesentlich verschlechterten sanitären Bedingungen. Von November 2019 bis Februar 2020 gab es drei Serien von Räumungen sowie die generelle Anweisung des Polizeipräsidiums, „hart durchzugreifen“, und ein starkes Aufgebot von Polizeikräften, die den Auftrag hatten, Neuankömmlinge zu „verdrängen“ und die Campbewohner_innen „in ihrem Camp zurückzuhalten“.
Im Februar bildete sich erneut ein Camp am Canal Saint-Denis in Aubervilliers. Am zweiten Tag der Ausgangsbeschränkungen, am 17. März, waren ca. 500 Menschen in diesem Camp eingeschlossen, zusammengepfercht, ohne Wasser, ohne Sanitäreinrichtungen, ohne Nahrung. Die Polizei drängte gewaltsam diejenigen zurück, die aus dem Camp herausgehen wollten. Laut der NGO Médecins du Monde (Ärzte der Welt) war keine Einhaltung der „Abstandsmaßnahmen“ möglich, was eine Gefährdung dieser Menschen und deren Kontakte bedeutete. Am 24. März wurden auf Beschluss der Präfektur der Region Île-de-France ca. 730 Menschen in Obdach gebracht, hauptsächlich in Sporthallen und zum Teil in Hotels. Bei der Evakuierung konnten keine Hygienevorkehrungen getroffen werden, sodass die über 700 Personen beim Einsteigen in die nicht desinfizierten Busse dicht an dicht standen, und so weiter.
Auch wenn diese Maßnahme zum Schutz der Migrant_innen eine Erleichterung darstellt, muss angemerkt werden, dass von den in Betracht gezogenen Unterkunftsmöglichkeiten die Sporthallen eine neue Form des Lebens auf engstem Raum schaffen, was die Ausbreitung des Virus fördert. Außerdem ist man besorgt über die Mittel, die die Verwalter dieser Einrichtungen für den konkreten Schutz der Migrant_innen sowie der zivilgesellschaftlichen Akteure, die sie begleiten, zur Verfügung haben. Es wäre wichtig, alle in diesen Einrichtungen systematisch auf Covid-19 zu testen.
Abschließend schätzt man, dass zwischen 50 und 100 Migrant_innen die Evakuierung „verpasst“ haben und auf der Straße verbleiben – ohne jegliche Betreuung bzw. Versorgung aufgrund der Unterbrechung der üblichen Begleitmaßnahmen. Diese Menschen finden sich in kleinen Gruppen zusammen und bilden Minicamps entlang des Canal de l’Ourcq und des Canal Saint-Denis.
In Calais und Umgebung
In der nördlichen Küstenregion unterscheidet sich die Situation in den verschiedenen Kommunen der Region einerseits und den Städten Calais und Grande-Synthe andererseits stark voneinander.
Die Vorgehensweise in Ouistreham wird als „beispielhaft“ angesehen, auch wenn es kein Eingreifen seitens der Behörden gibt: die etwa 60 Exilierten, die sich in der Stadt aufhalten, sind seit Ende März in einem Ferienzentrum untergebracht, das in diesem speziellen Fall vom Roten Kreuz verwaltet wird.
In mehreren kleinen Orten an der nördlichen Küste, in denen zahlreiche Exilierte in kleinen Gruppen verstreut sind, scheint die Situation allgemein gut bewältigt zu werden, durch ein lange bestehendes, sehr aktives Netz von Helfer_innen und durch Anbieter, die bei Bedarf Unterkünfte zur Verfügung stellen. Dies gilt vor allem für die Kommunen Quernes, Saint-Hilaire Cottes, Angres, Cherbourg, Steenvoorde, wo die Aufnahme und sichere Unterbringung der Migrant_innen vor Ort ohne Eingreifen des Staates erfolgte.
In Calais und Grande-Synthe hingegen ist die Situation gekennzeichnet von den schon lange bestehenden und immer wieder neu gebildeten Camps, die sich über die Stadt und ihre Umgebung verteilen. Sie nehmen in Calais 800 bis 1.000 und in Grande-Synthe 500 bis 600 Personen auf. Die sanitären Bedingungen sind dramatisch unzulänglich, vor allem der Zugang zu Wasser, Seife etc. Bis Anfang April gab es keinerlei Zeichen von Seiten der Behörden. Die zivilgesellschaftlichen bzw. karitativen Organisationen und NGOs arbeiten auf sich gestellt, und viele mussten ihre Aktivitäten aufgrund ihrer eigenen Ausgangsbeschränkungen einstellen.
Mehrere Fälle von Covid-19 wurden Ende März/Anfang April in den Camps in Calais diagnostiziert, erst am 3. April jedoch kündigte die Präfektur des Pas-de-Calais den Start einer „Schutzmaßnahme“ an, die zwei Wochen dauern sollte. Am 8. April waren tatsächlich 200 Menschen aus den Straßencamps geholt und auf verschiedene Aufnahmezentren verteilt worden. Am 6. April kündigte schließlich die Präfektur den Beginn von Schutzmaßnahmen für die Campbewohner_innen in Grande-Synthe an.
Die Situation der Bidonvilles im Pariser Raum
Aktuell gibt es in Paris und im Pariser Raum sechs Bidonvilles (oder „Roma-Camps“) mit insgesamt ungefähr 370 Menschen. Im Rahmen der zurzeit begrenzten Möglichkeiten werden sie von Nachbarn sowie Initiativen und Hilfswerken (Restos du Cœur, eine französische Initiative, die Bedürftige mit Nahrung, Kleidung und anderen Hilfsangeboten versorgt; Secours catholique, ein Hilfswerk der französischen römisch-katholischen Kirche) unterstützt, aber ihre sanitären Bedingungen sind durch die Ausgangsbeschränkungen Besorgnis erregend.
Weitere zum Ende des Monats März aktualisierte Daten über alle Bidonvilles in Metropolitan-Frankreich, die vom Krisenstab des Collectif National Droits de l’Homme Romeurope (deutsch etwa: Nationale Initiative für Menschenrechte Romeurope) zu Covid-19 zusammengetragen wurden, weisen in zahlreichen Camps (insgesamt etwa 15.000 Personen betreffend) prekäre Bedingungen in Bezug auf Sanitäreinrichtungen, Zugang zu Wasser, zu Hygiene usw. auf. Im Umfeld dieser Camps gibt es sehr aktive Hilfsinitiativen, aber die Situation wird aufgrund der Ausgangsbeschränkungen für die Campbewohner_innen und die Helfer_innen selbst kritischer, vor allem in Bezug auf Hilfeleistungen diverser Art, u. a. die Versorgung mit Lebensmitteln.
Schlussfolgerung. Gefährlichkeit der Unterbringung in Camps
Die Exilierten, die in Europa und in Frankreich unterwegs sind und sich in einer prekären Situation befinden, sind zum allergrößten Teil eher junge und widerstandsfähige Menschen. Auch wenn sie im Prinzip ein geringeres Risiko tragen, am Coronavirus zu erkranken, so sind sie doch durch ihren zurückgelegten Migrationsweg erheblich geschwächt. Der Alltag im Camp stellt zu jedem Zeitpunkt sowohl für die Exilierten als auch für die Helfer_innen durch den Mangel an Hygiene- und Schutzmitteln (Wasser, Seife, aber auch Masken, Brillen, Feuchttücher usw.) ein großes Risiko dar.
Die gesellschaftliche und politische Abschottung (Unterbringung der Migrant_innen in Camps) stellt natürlich keine gesundheitliche Sicherheit für diese Menschen dar, was die französischen Behörden stillschweigend insofern anerkennen, als sie die abgeschotteten Menschen umquartieren. Mangels Vorausschau handeln sie im Zugzwang – erst, wenn die ersten Fälle von Ansteckung auftreten.
Was an den Hotspots auf den griechischen Inseln gerade vor sich geht, gibt tatsächlich zu denken. Die beunruhigende Ausbreitung des Virus, die dort noch mehr Abschottung für etwa 40.000 in Camps eingeschlossene Exilierte nach sich zieht – eine „doppelte Strafe“, wie einige Kommentatoren es nennen – zeigt, wie gefährlich die Unterbringung in Camps im Hinblick auf den Zugang zu medizinischer Versorgung und allgemein zu Menschenrechten ist.
Die von den Behörden vor Kurzem ergriffenen Schutzmaßnahmen zeigen, dass eine Umquartierung und sichere Unterbringung schnell möglich sind, sobald ein politischer Wille da ist. Die französische Verwaltung hat auch beschlossen, alle Aufenthaltstitel um drei Monate zu verlängern, die kurz vor dem Ablaufen stehen. Dies ist gleichsam ein Zugeständnis, für kurze Zeit Zugang zu Menschenrechten zu gewähren, zeitlich begrenzt, und ohne die übliche Vorgehensweise in Frage zu stellen.
Gleichwohl scheint es bei der Haltung des Staates, nur im Zugzwang zu handeln, einzig darum zu gehen, die Gesundheitskrise an den oder ausgehend von den bestehenden Orten der Abschirmung der Migrant_innen nicht auszuweiten, ohne jedoch das Maßnahmenpaket, bestehend aus Verwahrung in Abschiebehaftanstalten und Abschottung in Camps, in Frage zu stellen. Daraus ergibt sich ein teilweiser und unvollendeter Prozess des „Entcampens“ (désencampement), also die Bewohner_innen aus den Camps herauszuholen und in andere Unterkünfte zu verlegen, der viele Menschen weiterhin sich selbst überlässt bzw. mit Blick auf Hygiene und Zugang zu Rechten in unsicheren Bedingungen hält.
Redaktionelle Anmerkung zum Begriff Bidonville
Der Begriff Bidonville besitzt keine direkte Entsprechung im Deutschen. Er ähnelt dem englischen shantytown und bezeichnet eine Hütten-, Elends- bzw. Behelfssiedlung. Die Bezeichnung geht auf solche Ansiedlungen in der französischen Kolonie Algerien zurück, die unter Verwendung von Kanistern (frz. bidons) errichtet worden waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete er informelle Siedlungen von kriegsbedingt obdachlos gewordenen Franzosen sowie von Migrant_innen am Rand der größeren französischen Städte. In den 1970er Jahren wurden diese weitgehend durch die als banlieues bekannten Randsiedlungen der Städte ersetzt, bevor sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten neue Bidonvilles bildeten, in denen u.a. Roma und Geflüchtete lebten. Das größte dieser neuen Bidonvilles war der Jungle von Calais in den Jahren 2015/16 mit zeitweise 10.000 Bewohner_innen.
Abkürzungen
EHESS: École des hautes études en sciences sociales (Elitehochschule für Sozialwissenschaften)
LDH: Ligue des droits de l’Homme (Liga für Menschenrechte)
Gisti: Groupe d’information et de soutien des immigrés (Informations- und Unterstützungsgruppe für Migrant_innen)
Migreurop: Observatoire des frontières (deutsch etwa: Beobachtungsstelle der Grenzen)
Terre d’errance: karitative Organisation, die Migrant_innen im Departement Pas-de-Calais unterstützt
Weiterführende Literatur
Communiqué de l’Observatoire de l’enfermement des étrangers (OEE): «Face à la crise sanitaire, l’enfermement administratif des personnes étrangères doit immédiatement cesser», Weblog l’OEE, 18. März 2020.
Julien Mucchielli, «Les centres de rétention se vident, l’administration persiste», Dalloz actualités, 25. März 2020.
Communiqué de presse conjoint du HCDH, de l’OIM, du HCR et de l’OMS: «Les droits et la santé des réfugiés, des migrants et des apatrides doivent être protégés dans le cadre des efforts de lutte contre la Covid-19», 31. März 2020.
Note d’information de la Cimade: «Rétention : comment la Cimade agit-elle en période de confinement?», 6. April 2020.
Babels: De Lesbos à Calais. Comment l’Europe fabrique des camps (unter der Leitung von Yasmine Bouagga), éditions Passager clandestin (Bibliothèque des frontières), 2017.
Der Autor
Michel Agier ist Anthropologe, Forschungsdirektor am Institut de recherche pour le développement – IRD (deutsch etwa: Forschungsinstitut für Entwicklung) und leitet Studien an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS). Außerdem leitet er die Abteilung Policy am Institut Convergences Migrations (deutsch etwa: Institut für Migrationsforschung). Sein Forschungsgebiet umfasst die Zusammenhänge zwischen der menschlichen Globalisierung, den Bedingungen und Orten des Exils und der Entstehung neuer urbaner Kontexte.