Das Ertrinken von Shiva Mohammad Panahi, Rasul Iran Nezhad, ihrer Kinder Artin, Armin und Anita sowie zweier weiterer Menschen vor Loon-Plage am 27. Oktober 2020 (siehe hier und hier) war das bislang schlimmste Unglück während einer migrantischen Bootspassagen nach Großbritannien. Mit ihrem Tod stieg die Zahl der Menschen, die durch das kontinentaleuropäisch-britische Grenzregime ihr Leben verloren haben (und von denen wir dies wissen) auf beinahe 300. In keiner anderen Grenzregion im Inneren Europas gab es nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Eisernen Vorhangs so viele Grenztote wie in der Region rund um den Ärmelkanal. Trotz der räumlichen Nähe ist diese Tatsache kaum je in das Bewußtsein der kritischen Öffentlichkeit in Deutschland gerückt. Daher hier ein Überblick.
Die Datenbasis
Eine systematische Erfassung der Todesfälle durch die Behörden Frankreichs, Belgiens, Großbritanniens und der Europäischen Union ist uns während unserer mehrjährigen Recherchen nie begegnet; offensichtlich weil es sie nicht gibt. Anders verhält es sich bei internationalen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Initiativen. So stellt das Missing Migrants Project der IOM (Internationale Organisation für Migration) im globalen Maßstab Daten von Todesfällen bereit (Downloads), aus denen sich diejenigen extrahieren lassen, die sich bei der Migration nach Großbritannien ereignet haben. Diese Daten stammen in aller Regel von zivilgesellschaftlichen Initiativen oder aus Medienberichten.
Es gibt mehrere solcher Initiativen, die das Geschehen in der Kanalregion dokumentieren. Sie stützen sich maßgeblich auf die Auswertung lokaler und regionaler Medien, denn während einige Todesfälle nationale oder internationale Aufmerksamkeit erfahren, werden andere lediglich lokal gemeldet und beachtet. Hinzu kommen Informationen der zivilgesellschaftlichen Flüchtlingshilfe und von Migrant_innen selbst.
Seit mehr als einem Jahrzehnt dokumentiert Calais Migrant Solidarity, eine lokale No-borders-Initiative, unter der Rubrik Deaths at the Calais Border alle bekannt gewordenen Fälle seit 2002. Ein darauf aufbauender Timeglieder visualisiert die Entwicklung bis Ende 2019 (danach erfolgte keine Aktualisierung mehr) und enthält jeweils Kurzbeschreibungen, was geschehen ist:
Auf der gleichen Datenbasis basiert die interaktive Karte Observatoire des migrants morts á Calais der Groupe d’Information et de soutien aux immigré-e-s (GISTI). Sie ist das Projekt von Maël Galisson, der von 2012 bis 2015 die regionale Plateforme de Service aux Migrants koordiniert und 2015 die Zeitung Journal des Jungles mitbegründet hatte. Die Karte wurde durch den Geographen Nicolas Lambert gestaltet und visualisiert die bekannten Todesfälle seit 1999.
Die in diesen Quellen erfassten Todesfälle sind weitgehend, aber nicht vollständig, identisch. Auch ist von einem Dunkelfeld auszugehen, vor allem in Bezug auf den Zeitraum vor Beginn des jeweiligen Dokumentationsprojekts. Auch wenn die meisten Exilierten gut mit anderen vernetzt sind und das Verschwinden eines Menschen daher auffällt, können auch heute Todesfälle unentdeckt bleiben. So berichtete uns ein äthiopischer Aktivist im Sommer 2019 in Calais von über einem Dutzend Personen, über deren Verbleib man nichts wusste und um die er sich sorgte. Unter den denkbaren Möglichkeiten, was mit ihnen geschehen sein könnte, war der Tod aus seiner Sicht allerdings nur eine von mehreren.
Wieviele Menschen starben bisher?
Das Observatoire des migrants morts á Calais dokumentiert aktuell den Tod von 296 Menschen. Bei einem auch nur kleinen Dunkelfeld ist also von einer Gesamtzahl um 300 oder etwas darüber auszugehen.
Einer dieser Menschen war ein am Migrationsgeschehen unbeteiligter EU-Bürger aus Polen. Er starb am 20. Juni 2017 bei einem Autounfall, der durch die Blockade der Küstenautobahn nahe Calais durch Geflüchtete verursacht worden war.
Bislang dreimal endeten kommerzielle Schleusungen in Lastwagen bzw. Containern in einer Katastrophe: Am 18. Juni 2000 wurden in Dover die Leichen von 58 Chines_innen, am 9. Dezember 2001 im irischen Wexford die Leichen von 8 türkischen Kurd_innen und am 23. Oktober 2019 in Grays die Leichen von 39 Vietnames_innen (siehe hier) entdeckt. In allen Fällen waren die misslungenen Schleusungen über den belgischen Frachthafen Zeebrugge erfolgt.
Die übrigen Menschen starben bei anderen, individuell oder in Kleingruppen praktizierten Grenzpassagen, andere wiederum infolge der Lebensbedingungen in den Camps, aufgrund von Tötungsdelikten oder aus anderen Gründen. Betrachten wir nun diese größte Gruppe von Todesopfer (basierend auf den Daten des Observatoire):
Ihre Nationalität der Toten spiegelt ungefähr diejenige in den Camps wider. So dokumentiert das Observaroire den Tod von insgesamt 25 Menschen aus dem Irak (darunter irakische Kurd_innen), je 24 aus Afghanistan und dem Sudan, 22 aus Eritrea, je 16 aus Äthopien und dem Iran (daruter ebenfalls Kurd_innen), sechs aus Vietnam (ohne die 39 bereits erwähnten Vietnames_innen), je fünf aus Pakistan und Ägypten und vier aus Syrien. Einzelne stammten u.a. aus Indien sowie verschiedenen west- und nordafrikanischen sowie ost- und südosteuropäischen Ländern. Die Nationalität zahlreicher Toter ist nicht bekannt.
Die meisten dieser Menschen waren junge Erwachsene und Jugendliche. Soweit Altersangaben vorliegen, waren 25 Personen zwischen 16 und 20 Jahre, 46 Personen zwischen 20 und 25 Jahre und 18 Personen zwischen 26 und 30 Jahre alt. Zu den Toten gehören 15 Kinder, von denen fünf jünger als fünf, zwei weitere jünger als zehn und acht zwischen 13 und 15 Jahre alt waren. 22 Menschen waren in den Dreißiger-, sieben in den Vierzigerjahren ihres Lebens und drei älter als fünfzig.
Die Daten des Obervatoire geben außerden Aufkunft über die Todesursachen, die für alle Opfer zumindest grob erfasst sind. Demnach kamen 46 % durch Unfälle im Zusammenhang mit der (versuchten) Grenzpassage per Straßenverkehr zu Tode, etwa in dem sie auf der Autobahn von einem Fahrzeug erfasst wurden oder in einem Laderaum starben. Während des gesamten Zeitraums war dies die häufigste Todesursache, allerdings wurden seit dem Anstieg der Bootspassagen 2019 keine solchen Fälle mehr registriert. Neben dem Straßenverkehr kam es auch im Schienenverkehr zu tödlichen Unfällen, die insgesamt knapp 12 % der Todesfälle ausmachen und sich zumeist im Bereich des Kanaltunnels ereigneten. Allerdings liegen die meisten von ihnen bereits lange zurück, weil der Tunnel durch immer massivere Sicherheitsanlagen seine ursprüngliche Bedeutung als Passageort verloren hat. Weitere knapp 17 % starb durch Ertrinken, teils während einer Bootspassage, teils beim Versuchen, zu einer Fähre zu gelangen, den Kanal schwimmend oder mit improvisierten Schwimmhilfen zu durchqueren oder auch bei Unfällen an der Küste und in Binnengewässern. Todesfälle durch Ertrinken sind für den gesamten Zeitraum dokumentiert, häufen sich aber im Kontext der Bootspassagen ab 2019. Tötungsdelikte (meist bei Auseinandersetzungen zwischen Geflüchteten) bilden mit knapp 10 % die vierthäufigste Todesursache. In diese Kategorie gehört auch der Tod des zweijährigen kurdischen Kindes Mawda während eines Polizeieinsatzes in Belgien am 16. Mai 2018 (siehe hier), der am 23./24. November 2020 strafrechtlich verhandelt wird. Weitere Todesfälle haben mit unzureichendem Zugang zur Gesundheitsversorgung (3 %) zu tun oder ereigneten sich während einer nicht näher spezifizierten Grenzpassage (4 %). Mindestens ein Mensch nahm sich das Leben. Ein Säugling starb durch Frühgeburt.
Die Anzahl der Todesfälle korreliert einerseits mit der Anzahl der Geflüchteten in den nordfranzösischen Camps, was einen Anstieg in der ersten Hälfte der 2010er Jahre hin zu einem Höchstwert in den Jahren 2015/16 erklärt. Allerdings zeigt sich auch, dass der Wechsel der Migrationstechnik vom Versteck in einem Lastwagen (mit einem hohen Risiko schwerer Unfälle) hin zu den Bootspassagen zunächst eine Verringerung der Todesfälle bei gleichzeitiger starker Verbesserung der Erfolgsaussichten bewirkte (siehe hier). Möglicherweise markieren die sieben Todesfälle vom 27. Oktober hier eine Zäsur.
Die räumliche Dimension
Die Kartierung der Todesfälle bzw. Fundorte durch das Observatoire zeigt eine räumliche Ausweitung von Calais über weitere Häfen und das Hinterland der Küste hin zu einem sehr viel weiteren Raum einschließlich Belgiens. Diese Entwicklung resultierte aus der Verschließung bestehender Zugänge zum grenzübergreifenden Verkehr, also aus der Konzeption und dem Vollzug des Grenregimes, und ging mit der Entstehung neuer migrantischer Camps an grenzferneren, aber verkehrsgünstig gelegenen Orte einher. Einige Zeitschnitte verdeutlichen dies:
Der Zeitschnitt 2002 zeigt, dass sich die meisten Todesfälle zunächst in und bei Calais, einzelne auch auf See und im Binnenland ereigneten. Die hohe Zahl im englischen Dover ist hauptsächlich durch die 58 im Jahr 2000 dort entdeckten Leichen chinesischer Migrant_innen bedingt.
Die beiden Zeitschnitte bilden die Entwicklung vom allmählichen Anwachsen der Calaiser Camps um 2008 bis zur Räumung des bis dahin größten Jungle im Herbst 2016 ab. Mit der Anzahl der Migrant_innen nahm in dieser Phase auch die Zahl der Todesfälle stark zu. Gleichzeitig wurden vermehrt auch Fälle in der Umgebung von Dunkerque und im Hinterland dokumentiert.
Der aktuelle Zeitschnitt zeigt: Insgesamt hat sich der Raum, in dem Migrant_innen on the move gestorben sind, ein weiteres Mal nach Süden und Osten ausgeweitet, umfasst nun auch Belgien und eine größere Anzahl von Fällen auf See. Auch der Fundort der 39 Vitnames_innen (siehe oben) in Grays an der Themse ist abgebildet.
Dabei konzentriert sich das Geschehen an einigen Orten besonders stark. Ein solcher Ort ist die Zubringerautobahn zum Calaiser Fährhafen, in deren Nähe die meisten Calaiser Camps entstanden. Der große Jungle der Jahre 2015/16 grenzte auf eine Strecke von etwa einem Kilometer sogar unmittelbar an diese von Hochsicherheitszäunen flankierte und von Polizeiposten bewachte Straße, deren ohnehin stockender Verkehrsfluss dennoch häufig von Geflüchteten gestoppt wurde, die auf ein Versteck in einem Lastwagen hoffte; neben solchen gefährlichen Manövern wurden auch Sprünge von von einer Brücke auf fahrende Fahrzeuge prakzitiert. Auf dieser nur wenige Kilometer langen Strecke starben so viele Migrant_innen wie an keinem anderen Ort der Kanalregion. In geringerem Maße gilt dies auch für die französische Küstenautobahn A 16 zwischen Dunkerque und Calais. Die weitere Absicherung dieser Strecken durch Zäune und Mauern (Zubringerautobahn) bzw. die Schließung von Park- und Rastplätzen zugunsten weniger umzäunter und kontrollierter Anlagen (Küstenautobahn, auch in Belgien) ist einer der Gründe für die teilweise Verlagerung des Geschehens in grenzferne Gebiete und hin zu den Booten.
Gedenkorte
In manchen Fällen gelingt es den Familien oder Bezugsgruppen der Verstorbenen, eine Beisetzung im Heimatland zu organisieren und zu finanzieren. Andere werden auf lokalen Friedhöfen bestattet. So befindet sich etwa auf dem Calaiser Nordfriedhof ein muslimischer Begräbnisplatz, auf dem auch einige Grenztote bestattet sind. Einige dieser Gräber sind lediglich mit Nummern versehen. Am 31. Juli 2015 wies Bürgermeisterin Natacha Bouchart das Friedhofspersonal an, journalistische Fotos dieser Gräber zu unterbinden. Dieser Umgang mit den Gräbern setzte die Politik der Invisibilisierung der Exilierten und ihrer Lebensorte in den Raum des Todes hinein fort.
Unterdessen ist es in Calais üblich geworden, für jeden bekannt gewordnenen Grenztoten eine Gedenkkundgebung in der Innenstadt abzuhalten, und zwar am Gefallenen-Ehrenmal der Französischen Republik am Eingang des Richelieu-Parks.
Außerdem haben kirchliche und künstlerische Akteure eigene Erinnerungsorte geschaffen. So befindet sich am Eingang der katholischen Kirche Saint-Joseph in Calais heute eine Gedenktafel, die in mehreren Sprachen an die „Toten dieser Grenze“ erinnert.
Ein wichtiger Erinnerungsort ist nicht zuletzt ein Banksy-Mural an der Strandpromenade unweit der Hafeneinfahrt von Calais. Es zeigt die Silhouette eines Kindes, das mit einem Fernrohr die britische Küste anvisiert, doch auf dem Fernrohr sitzt ein Geier. Im Frühjahr 2019 gedachte das von Exilierten ins Leben gerufene Kollektiv Appel d’Air hier der Grenztoten Europas.
Die gegenwärtige Entwicklung zeigt, dass mit weiteren Grenztoten zu rechnen ist. „Diese Grenze tötet nicht. Sie ist ein Mordwerkzeug“, schrieb die Gruppe Utopia 56 nach dem Tod der sieben Bootsflüchtlinge am 27. Oktober. Die 300 Menschen und diejenigen, die ihnen in den kommenden Jahrzehnten folgen werden, starben und sterben nicht durch die Grenze als solche, sondern aufgrund ihrer politischen Zurichtung zu einer nur noch unter erheblichem Risiko zu durchdringenden Barriere, in deren Vorfeld das Leben zermürbend und unsicher, von Stress und Gewalt durchdrungen ist. Die Aufrechterhaltung dieser Bedingungen bedeutet die Inkaufnahme weiterer Toter.