[Update vom 21.11.2020] Wie die Präfektur mitteilte und verschiedene französische Medien berichteten, ist am gestrigen 19. November 2020 erneut ein Geflüchteter während der Transitmigration nach Großbritannien gestorben. Das Unglück ereignete sich auf der Küstenautobahn A 16 in der Nähe des Kanaltunnels. Der junge Mann von Anfang zwanzig wurde dort von einem Auto angefahren und schwer verletzt ins Krankenhaus von Calais eingeliefert, wo er kurz darauf starb. Über die Identität und Biographie des Opfers ist bislang lediglich bekannt, dass er aus dem Sudan kam.
Der Todesfall steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit Versuchen, im Fluss des Güterverkehrs nach Großbritannien zu gelangen. Nach der massiven Räumungswelle im Juli dieses Jahres (siehe hier) und der Einzäunung weiterer Gebiete im Vorfeld des Fährhafens (siehe hier) hat der Lastkraftverkehr zu den Verladeanlagen des Kanaltunnels an Bedeutung für die Grenzpassage gewonnen. Im gleichen Zeitraum wechselte ein Teil der Exilierten, die bis dahin in Reichweite der Zubringerautobahn zum Fährhafen gelebt hatten, dorthin. Das am 13. November geräumte Camp im ehemaligen Fort Nieulay (siehe hier) lag in unmittelbarer Nähe der Autobahnabfahrt für den Lastkraftverkehr zum Kanaltunnel.
Auch am Vormittag des 19. November gab es sowohl an der Zufahrt zum Kanaltunnel, als auch an der Zufahrt zum Fährhafen solche Situationen. Das Portal InfoMigrants berichtet unter Berufung auf die Präfektur, dass sich die auf ihre Abfertigung zum Kanaltunnel wartenden Lastwagen zeitweise über einen Kilometer weit auf der A 16 gestaut hätten. Dutzende Migrant_innen hätten bei dieser Gelegenheit versucht, in die Fahrzeuge zu gelangen. Während des gesamten Morgens habe die Polizei interveniert und, so der Stabschef des Präfekten, „mehr als 500 Versuche des Eindringens abgewehrt“. Einem Fotografen der Presseagentur AFP zufolge sei dabei auch CS-Gas eingesetzt worden.
Die Lokalzeitung La voix du Nord berichtete noch am Vormittag des 19. November über die zeitgleichen Staus auf den Autobahnen zum Kanaltunnel und zum Fährhafen. Ihre Ursache sei die Verlangsamung des Verkehrsflusses wegen schwieriger Wetterbedingungen im Ärmelkanal, einer Panne bei der Fährlinie F & O Ferries sowie aufgrund von Covid-19-Fällen. Das Ziel der Präfektur sei es gewesen sicherzustellen, dass mindestens 50 % der für diesen Tag geplanten Transporte über den Fährhafen und den Kanaltunnel abgewickelt werden könnten. Aus weiteren Berichten geht hervor, dass das Frachtaufkommen anderthalb Monate vor dem faktischen Vollzug des Brexit zum 1. Januar 2021 ungewöhnlich hoch sei und es vor allem mittwochs und donnerstags zu Engpässen komme.
Der Todesfall ereignete sich nicht unmittelbar in dieser Situation, sondern am späten Donnerstagnachmittag, als der Verkehr wieder floss. Auch in solchen Situationen halten sich Migrant_innen häufig im Bereich der Autobahn auf. Offenbar wurde das Opfer auf der Abfahrt zum Eurotunnel von einem Pkw erfasst. Wie La Voix du Nord am 21. November berichtete, starb der Sudanese im Verlauf eines Pfades, der von Migrant_innen genutzt wird, um über die Autobahn an eine Stelle zu gelangen, an der die Hochsicherheitszäune des Eurotunnel-Geländes mit seinem Verladebahnhof für den Güterverkehr umgangen werden können. Dass solche Pfade wegen der Autobahnüberquerung lebensgefährlich sind, sei in Calais seit langem bekannt und bereits drei Wochen vor dem Unfall zwischen der (alles andere als migrantenfreundlichen) Stadtspitze und verschiedenen lokalen und nationalen Polizeibehörden diskutiert worden. Ein Vertreter der Stadt Calais erklärte mit Blick auf diese Besprechung: „Ja, ein Drama war vorhersehbar. Das Risiko ist sehr groß. Kann es durch Zäune verhindert werden? Wir haben darüber gesprochen, aber diese Menschen sind verzweifelt und entschlossen. Irgendwann hörten die Zäune auf und können umgangen werden.“
Alles in allem sind Verkehrsunfälle an Knotenpunkten des Güterverkehrs ein wiederkehrendes Muster. Jahrelang ereignete sich fast jeder zweite Todesfall in einem solchen Kontext. Die letzten dieser Fälle datieren von Mai 2019 (auf der A 16 zwischen Dunkerque und Calais) und Dezember 2019 (auf der E 42 in der Nähe der belgischen Stadt Tournai).
Legt man das Datenmaterial des Projekts Observatoire des migrants morts à Calais (siehe hier) zu Grunde, so ist dies der 297. dokumentierte Todesfall im Kontext der kontinentaleuropäisch-britischen Migrationsroute. Nach einer Phase relativer Sicherheit in den ersten drei Quartalen dieses Jahres haben nun neun Menschen innerhalb nur eines Monats ihr Leben verloren.