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Benelux & Deutschland

Strafverfahren im Fall Mawda beginnt

Mawda. (Foto: privat)

Am heutigen 23. November beginnt im belgischen Mons der Strafprozess, der die Schuld am Tod des kurdischen Mädchens Mawda klären soll. Das in Deutschland geborene Kind hatte mit seiner Familie in den Camps von Grande-Synthe gelebt und war während einer Schleusung, die über Belgien abgewickelt wurde, in der Nacht zum 17. Mai 2018 von einem belgischen Polizisten erschossen worden. Die Schüsse fielen, als das für die Schleusung benutzte Fahrzeug bereits nicht mehr entkommen konnte und anhielt. Der Fall wurde in Belgien als öffentlicher Skandal begriffen; das oben abgebildete Foto Mawdas wurde dabei zum Symbol für Polizeigewalt gegen Geflüchtete. Angeklagt sind nun der Todesschütze und als mutmaßlicher Schleuser der Fahrer des Fahrzeugs.

Im Mittelpunkt der juristischen und politischen Auseinandersetzung steht die Frage, ob die Schüsse auf das Fahrzeug, auf dessen Beifahrersitzbank sich Mawda befand, als Mord zu bewerten sind. Die Vertreterin der Familie, antirassistische und menschenrechtspolitische Organisationen und zahlreiche Intellektuelle vertreten diese Position und begründen dies mit Anhaltspunkten dafür, dass der Schütze in einer Art Jagdfieber gehandelt zu haben scheint, in dem sich wiederum ein generelles Muster polizeilichen Verhaltens gegen undokumentierte Migrant_innen spiegelt. Allerdings war der Fall in einem Vorverfahren, dass die weitere gerichtliche Zuständigkeit klären sollte, am 6. August 2020 nicht den für Morddelikte zuständigen Assisenhof, sondern dem Tribunal correctionnel, einem für weniger gravierende Delikte zuständigen Gericht, zugeteilt worden (siehe hier und hier)

Die Unterstützer_innen der Familie hatten für das Wochenende vor Prozessbeginn eine Reihe von Veranstaltungen und Aktionen geplant, darunter Konferenzen und Workshops, die wegen der Corona-Pandemie größtenteils ausfallen oder virtuell stattfinden mussten. Außerdem veröffentlichten mehr als 50 Organisationen und 150 Einzelpersonen, darunter zahlreiche Wissenschaftler_innen und Künstler_innen, eine gemeinsame Erklärung, in der sie auf eine Bewertung des Falles als Mord beharren und u.a. eine parlamentarische Untersuchung, ein Ende von „Menschenjagden“ in der belgischen Polizeiarbeit, eine Regularisierung der Sans papiers, ein Ende des in seiner Wirkung tödlichen EU-Außengrenzregimes und ein neues Migrationsrecht fordern, welches u.a. die Situationen des Klimawandels und der postkolonialen Ungleichheit berücksichtigen soll.

Wir dokumentieren nun eine Passage dieser Erklärung, die sich mit der Verschleierung des Geschehens nach dem Tod des Kindes beschäftigt:

Es geht außerdem um die Inszenierung der vielen Lügen von Polizisten. Direkt nach dem Geschehen (siehe Nachforschungen von Michel Bouffioux) gleichen sich die Darstellungen an. Bereits in den ersten Minuten nach der Tötung formt sich ein Bündnis von Beamten; die Staatsanwaltschaft wird nicht eingeschaltet und es wird kein Bereich für eine Untersuchung des Tatorts abgegrenzt; der Schütze wird gebeten, nach Hause zu gehen, ohne dass er einer dem Vorfall angemessenen Befragung unterzogen worden wäre, und ohne dass ein Protokoll dazu aufgenommen worden wäre. Von seinem Vorgesetzten wird ihm lediglich mitgeteilt, dass es keine gerichtliche Verfolgung gegen ihn geben werde und dass er nach Hause gehen könne. Ihm wird auch geraten, einen Bericht über einen „bewaffneten Angriff“ gegen seine Person zu schreiben. Kurz nach der Beerdigung treffen sich die am Tötungstag anwesenden Polizisten – mit Ausnahme des Schützen –, um ihre jeweiligen Tatschilderungen aufeinander abzustimmen.

Von der These eines Blutergusses im Gehirn infolge eines Sturzes des Kindes von dem Kleinlaster über einen „Schusswechsel“ bis hin zu der abscheulichen These einer „Benutzung des Kindes als Rammbock“ und, später, der Behauptung bezüglich eines „Ausweichmanövers“ wurden die Versionen der Polizei und der Staatsanwaltschaft nacheinander verbreitet mit der Folge, dass das Ermittlungsverfahren zur Entlastung der Polizei erfolgte und der Strafkammer Aussagen geliefert wurden, die den Schützen (Polizisten) von diesem Verbrechen reinwaschen sollten. Es geht auch darum, dass die Staatsanwaltschaft die Thesen der Polizei deckte, indem sie alle aufeinanderfolgenden Darstellungen der Polizisten sehr schnell anerkannte – sogar die des Kleinlasters, der „von vornherein als Waffe geplant war“ –, ohne jemals gegen die Lügen, die Polizisten-Bündnisse, die Justizbehinderung und die Zeugenbestechungsversuche vorzugehen, obwohl alle schwere Verbrechen darstellen. Es handelt sich hierbei um offenkundige Bündnisse von Beamten, in die nicht nur Polizisten, sondern auch Staatsanwälte und Richter – durch das Verhalten der Staatsanwaltschaft – verwickelt sind. (Übersetzung: Nicole Guyau und Brigitte Vogt-Klein)

Wir werden über den Prozess auf diesem Blog weiter berichten.