Über die Todesfälle im Kontext des kontinentaleuropäisch-britischen Grenzregimes haben wir wiederholt berichtet, auch eine empirische Analyse der verfügbaren Daten haben wir vorgelegt (siehe hier). Maßgeblich für diese und jede weitere Beschäftigung mit diesem Thema ist die langjährige Arbeit von Maël Galisson von der französischen Rechtshilfe-Initiative GISTI. Unter dem Titel Deadly Crossings and the militarisation of Britain’s borders haben das Londoner Institute of Race Relations und das Permanent Peoples‘ Tribunal nun eine Dokumentation Galissons veröffentlicht: ein „Inventar der Todesfälle“, wie er selbst es nennt, für den Zeitraum von 1999 bis 2020.
Es ist die erste Studie, die zu diesem Thema in Großbritannien vorgelegt wurde. Galisson stellt den Tod der fast 300 Männer, Frauen und Kinder in den Kontext der im öffentlichen Bewusstsein viel präsenteren Todesfälle im Mittelmeer und im Atlantik. Doch obschon die in Nordfrankreich, Großbritannien und Belgien aufgefundenen Toten seit mehr als zehn Jahren regelmäßig von Aktivist_innen dokumentiert werden, bleiben sie in entsprechenden Studien oft unberücksichtigt, weil sie ihren Fokus vor allem „auf die Todesfälle an den ‚Toren‘ Europas“ richteten.
Galissons Untersuchung aber macht sehr eindrucksvoll deutlich, dass der Zunahme von Todesfällen hier wie dort die gleichen politischen und strukturellen Ursachen zu Grunde liegen, nämlich die Verschließung vorhandener Migrationspfade durch festungsartige Sicherheitsanlagen. „Die Geschichte der Sekuritisierung des Ärmelkanals ist eine Geschichte der Tode,“ schreibt Galisson. Präzise zeichnet er nach, wie die unterschiedlichen Ausbaustufen dieser Festungsarchitektur die Muster verändert haben, nach denen Menschen zu Tode kommen: Befestigungen am Fährhafen etwa bewirkten eine Häufung von Todesfällen am Kanaltunnel und der dortigen Autobahn; die stärkere Befestigung des Kanaltunnels führte zu einer Rückverlagerung des Geschehens in die Umgebung des Fährhafens, verbunden mit gehäuften Todesfällen dort. Die Sekuritisierung der nordfranzösischen Region insgesamt spiegelte sich in einer Zunahme von Todesfällen in Belgien und nicht zuletzt auf See. Galisson zeichnet dabei nicht das Bild einer eindimensionalen Kausalität, sondern weist auf weitere Faktoren wie etwa die starke Zunahme der migrantischen Bevölkerung in der Region von 2014 bis 2016 hin, die natürlich auch ein Grund für die Häufigkeit von Todesfällen in diesem Zeitraum ist. Gleichwohl zeigt die Lektüre der 28 Seiten füllenden Fallchronologie, wie sehr eine „durch Militarisierung bestimmte“ Grenzpolitik „Calais in eine mörderische Grenzzone verwandelt hat“.
Galissons Chronologie enthält keine ‚neuen‘ Todesfälle, sondern nennt jene 296 Toten, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits in anderer Form dokumentiert waren und zu denen zu mit Mohamed Khamisse Zakaria inzwischen noch ein weiterer hinzugekommen ist.
Wie wenig über manche dieser Menschen bekannt ist, zeigt ein Eintrag zum 28. März 2002: „Ein Mann unbekannter Nationalität starb unter Umständen, die in Vergessenheit geraten sind. Er wurde auf dem Gemeindeareal des Friedhofs von Coquelles bestattet. Auf einer hölzernen Grabplatte können wir weder seinen Vor-, noch seinen Familiennamen mehr erkennen, aber das Datum ist noch zu sehen: 28. März 2002.“ Eine Reihe von Einträgen zu den frühen 2000er-Jahren, meist aus dem Umfeld des Kanaltunnels, lauten ähnlich. Die Namen der Toten sind buchstäblich verschwunden.
Auf den 12 Juni desselben Jahres bezieht sich der folgende Eintrag: „Ein russischer Mann ertrank beim Versuch, den Ärmelkanal in einem Kanu zu durchqueren. Seine Leiche wurde nicht gefunden. Ein anderer Mann klammerte sich fünf Stunden an das driftende Kanu, bevor er gerettet und in das Krankenhaus von Calais gebracht wurde; er litt an Unterkühlung.“ Es ist der erste bekannte Todesfall während einer Bootspassage des Ärmelkanals, zwei weitere folgten im Juli 2003, die bislang meisten im Oktober 2020 (siehe hier, hier und hier).
Nicht wenige Menschen ertranken in Binnengewässern. So am 13. Juni 2009: „Aman Fisahaye Welderufael, ein äthiopischer Mann von 20 oder 35, ertrank, als er sich in einem Kanal vor dem besetzten Africa House in Calais waschen wollte, weil es keine Duschen gab. Aman war mit seinem Bruder unterwegs.“ Oder am 1. Februar 2011: „Um 3 Uhr nachts ertrank Dalir Zarifi, ein 24jähriger afghanischer Mann, als er von der Grenzpolizei verfolgt wurde; er sprang in den Canal de la Citadelle in Calais. Der Pathologe stellte fest, dass er an Unterkünlung starb.“
Auch in mehreren anderen Fällen spielte die Flucht vor der Polizei eine Rolle, etwa am 29. Januar 2018: „Mohammed, wahrscheinlich ein 40jähriger Äthiopier, starb, nachdem er auf der nach Oostende führenden Fahrspur der E 40 bei Jabbeke in Belgien auf der Flucht vor der Polizei von einem Auto erfasst wurde. Der belgische Innenminister Jan Jambon nannte den Vorfall ‚bedauerlich‘, kündigte aber an, dass die Polizeioperationen weitergehen würden.“
Die meisten Schilderungen beziehen sich auf Situationen wie am 4. und 12. Juli 2016: „Dembélé Mokontafé, ein Sechzehnjähriger aus Mali, starb bei einem Unfall mit Fahrerflucht auf der Hafenringstraße von Calais in der Nähe des ‚Jungle‘“, und: „Fesehatsion Samrawit, eine Neunzehnjährige aus Eritrea, starb, nachdem sie auf der Hafenringstraße von Calais von einem Lastwagen erfasst wurde.“ Andere erstickten, wie der 15jährige Masud Naveed aus Afghanistan am 3. Januar 2016, im Laderaum eines Lastwagens, wurden, wie der 19jährige Omar El Zouhairi aus dem Irak am 29. September 2015, von ungesicherten Paletten zerquetscht, starben, wie Mohammad Ali Douda aus dem Sudan am 24. Oktober 2014, bei Sprüngen von einer Brücke auf Laster oder, wie der 25jährige Mahammat Abdullah Moussa aus dem Taschad am 18. November 2018, versteckt an der Unterseite des Lastwagens. Nicht selten spielte auch die Erkenntnis eine Rolle, dass das Fahrzeug wider Erwarten nicht nach Großbritannien fuhr. „Abdullah war einer von drei Äthiopiern, die sich nachts in einem Lastwagen versteckt hatten, um nach Großbritannien zu gelangen. Als sie entdeckten, dass sie in die falsche Richtung fuhren, machten sie Lärm, sodass der Fahrer stoppte. Er bremste abrupt und Abdullah stieß sich den Kopf und starb. Die anderen beiden Männer flohen und gelangten zu Fuß zurück nach Calais.“ Auch in Deutschland wurden übrigens mehrmals Menschen in Lastern entdeckt, die aus Calais oder Dunkerque kamen, teils in isolierten Kühlräumen mit zur Neige gehendem Sauerstoff. Allerdings überlebten sie.
Gerade solche Fälle sind es, in denen sich die Situation der Exilierten am deutlichsten spiegelt. Sie sind es aber auch, die den geringsten medialen Nachrichtenwert besitzen. Oft sind es Lokalzeitungen oder Hinweise lokal tätiger Vereinigungen, durch die sie überhaupt erst in die Dokumentation gelangten. Galisson verweist zudem auf die große Zahl von Menschen, die in vergleichbaren Situationen verletzt werden, oft sogar schwer. Da die strukturellen Ursachen hierfür fortbestehen und fortentwickelt werden – wie zuletzt durch das britisch-französische Abkommen vom 28. November 2020 (siehe hier) –, wird auch die Zahl der Toten und Verletzten weiter steigen. Es müsse, schreibt die Vizepräsidentin des Institute of Race Relations Frances Webber in einer Vorbemerkung, daher um einen „radikal neuen Ansatz“ in Bezug auf die Grenze gehen, der „nicht von Kriminalisierung und Sekuritisierung abhängt.“