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Calais

Ein ruhiger Brexit, weniger Staus – und neue Zäune

Hochsicherheitszäune in der Nähe des Kanaltunnels im Jahr 2016. (Foto: Th. Müller)

Viel war während der vergangenen Jahre darüber spekuliert worden, wie sich der Brexit auf das Migrationsgeschehen auswirken werde. Drei Fragen standen und stehen dabei im Mittelpunkt: Wie wird sich die neue Situation auf das Grenzregime und die Migrationspfade auswirken? Wie wird Großbritannien nach dem Austritt aus dem Dublin-System mit denen umgehen, die in Fahrzeugen oder Booten auf die Insel gelangen? Und drittens: Was wird das angeblich radikal erneuerte Asylsystem beinhalten, das die Regierung Johnson im vergangenen Jahr – begleitet von einer beispiellosen Hysterie aufgrund der Bootsmigrant_innen – für die Post-Brexit-Phase ankündigte? All dies wird uns in künftigen Beiträgen noch beschäftigen. In Calais selbst wird nun eine indirekte Auswirkung des Brexit sichtbar: Die Legitimation weiterer Metallgitterzäune am heute schon festungsartig gesicherten Kanaltunnel.

Folgt man der lokalen Presse, so verlief die Sylvesternacht, in der Großbritannien die EU um 23 Uhr west- und 0 Uhr mitteleuropäischer Zeit verließ, in Calais denkbar unspektakulär. Auch in den Tagen danach kam es nicht zu dem seit Jahren befürchteten Verkehrschaos mit massenhaften Versuchen der Exilierten, sich in einem Wagen zu verstecken.

Tatsächlich hatte es diese Situation jedoch in den Monaten vor der Sylvesternacht gegeben, als britische Unternehmen neben den befürchteten Zöllen und Formalitäten auch massive Versorgungsprobleme im Fall eines No deal-Brexit erwarteten und daher versuchten, Vorräte anzulegen und möglichst viele Fahrten noch in 2020 abzuwickeln. Von Oktober bis Dezember bildeten sich an verkehrsreichen Tagen regelmäßig lange Staus, und die Migrationsversuche verlagerten sich in der Tat an die Lastwagenzufahrt der Autobahn A 16 zum Verladebahnhof des Kanaltunnels, wogegen die Polizei gewaltsam vorging. Dabei kam es zu regelrechten Menschenjagden, im November starb ein junger Mann aus dem Sudan (siehe hier). Um das Stauaufkommen zu regulieren, setzte die Präfektur außerdem einen für diese Situation entwickelten Verkehrsmanagementplan in Kraft, der einen Teil des Lastkraftverkerhrs auf weniger neuralgischen Autobahnabschnitten im Umland von Calais und Dunkerque zurückhielt.

Trotz einer gewissen Unsicherheit über die weitere Entwicklung war erwartbar, dass sich diese Situation nicht eins zu eins auf die Zeit nach dem Vollzug des Brexit übertragen lassen würde. Tatsächlich endeten sie auf französischer Seite bereits am 22. Dezember, als die Grenze nach dem Bekanntwerden einer gefährlichen Mutation des Coronavirus in Großbritannien für zwei Tage geschlossen wurde (siehe hier), Lieferungen nach Großbritannnien kaum mehr durchgeführt wurden und auf der Insel gestrandete Fahrer_innen tagelang auf englischen Autobahnen festsaßen.

Gleichwohl bilden die Brexit-Staus nun die Begründung für einen weiteren Ausbau der Sicherheitsanlagen, wie die Calaiser Zeitung La voix du Nord am heutigen 15. Januar 2021 berichtet. Im Fokus steht dabei die Lastwagenzufahrt von der A 16 zum Verladebahnhof des Kananlunnels. „Als Folge der zahlreichen Eindringungsversuche von Migranten werden hohe weiße Gitter errichtet, ähnlich denen, die bereits in dem Gebiet errichtet wurden,“ zitiert das Blatt die Medienstelle der Firma Getlink (ehemals Eurotunnel), die den Kanaltunnel betreibt. Die Planungen scheinen auf die Schaffung einer Korridorsituation abzuzielen, die die Bewegung der Migrant_innen behindern und den Einsatz der Sicherheitsbehörden erleichtern soll. Die Kosten würden voraussichtlich durch das Unternehmen getragen. Darüber hinaus könnten noch an einer weiteren Stelle, einem von Migrant_innen für den Weg auf die A 16 genutzten Areal in Coquelles, Zäune errichtet werden.

Die Zeitung erinnert daran, dass Eurotunnel bereits in der Vergangenheit ohne weiteres bereit gewesen sei, „hundert Hektar Vegetation abzurasieren, Gräben auszuheben und das Gelände zu fluten, um die Migranten daran zu hindern, sich auf ihr Gelände und auf die Autobahn zu begeben“. Allein seit 2015 seien um das Gelände des Kanaltunnels, des Fährhafens und die potenziellen Plätze migrantischer Camps im Industriegebeit Zone des dunes (siehe hier) insgesamt fast 65 Kilometer solcher Zäune errichtet worden, wie sie nun erneut geplant werden. Insofern sei der angekündigte Ausbau nicht überraschend.

Diese Einschätzung dürfte zutreffen. Verschiebungen der Migrationspfade und -techniken führten in aller Regel zu Nachjustierungen der organisatorischen und physischen Grenzbarrieren. Die Grenze expandiert weiter.

Update, 30, Januar 2021:

Während der Ausbau der Metallgitterzäune noch aussteht, hat Getlink den Weg von den nahegelegenen Camps zur A 16 schon einmal provisorisch mit Klingendraht gesichert. Ein von La Voix du Nord veröffentlichtes Foto zeigt eine improvisierte Sperrung der Rue des Pauvres (übersetzt: Straße der Armen), einer kleinen Stichstraße, die auf dem Getlink-Gelände an der A 16 endet. Allerdings, so das Blatt, hätten die Exilierten bereits neue Wege gefunden.