Die Räumung des Unicorn und andere Narrative der Gewalt
Parallel zur Räumungsserie in Grande-Synthe (siehe hier) wurde in Calais das Camp Unicorn im Stadtteil Virval geräumt, das sich zuletzt zum Lebensort für rund 600 Menschen entwickelt hatte. Die Räumung fand in einer Phase statt, in der eine in ihrem Ausmaß bislang beispiellose Beschlagnahme von Zelten die Lebensbedingungen weiter verschlechtert hat. Zeitlich überschnitt sie sich außerdem mit zwei Ereignissen, bei denen es zu Gewalt zwischen Exilierten sowie mit der Polizei kam. In der öffentlichen Wahrnehmung verschmolzen diese Situationen zu einer Gewalterzählung, die die Räumung – fälschlicherweise – als Reaktion auf Gewalt erscheinen ließ. Anders als die meisten anderen Räumungen stieß sie dadurch auch auf überregionale mediale und politische Aufmerksamkeit. Es gilt also, den Ereigniskomplex zu entwirren.
Verknappung der Zelte
Wie wir an dieser Stelle bereits berichteten (siehe hier), sind die routinemäßigen Räumungen in Calais weniger berechenbar geworden und, wie auch in Grande-Synthe, mit erheblich mehr Beschlagnahmungen von Zelten und anderen existenziellen Gütern verbunden. Diese bedeuten faktisch eine Enteignung der Geflüchteten und geschehen im Schutz einer rechtlichen Grauzone, die ihre Illegalität nur notdürftig bemäntelt.
Wie die Human Rights Observes in ihren Monatsberichten dokumentieren, wurden im April bei 105 beobachteten Räumungen in Calais 1.113 Zelte und 803 Schlafsäcke beschlagnahmt, so viele wie noch nie in einem Monat. Hinzu kam die Wegnahme von mindestens 100 Taschen bzw. Rucksäcken, 8 Telefonen und 200 Powerbanks, vier Fahrrädern sowie Kleidung, Brennzholz und Medikamenten. Im März waren bereits 546 Zelte beschlagnahmt worden, im Februar und Januar jeweils über 300. Seit Jahresbeginn summiert sich allein die Zahl der (dokumentiert) beschlagnahmten Zelte in Calais auf knapp 2.300. Eine ähnliche Entwicklung ist in Grande-Synthe zu beobachten, wo es im gleichen Zeitraum über 1.300 Zelte und Planen waren. Zahlen für den Mai liegen noch nicht vor.
Folge dieser Taktik ist eine Versorgungskrise in den Camps. „Während die in Calais agierenden [Hilfs-]Organisationen das Ende ihres Vorrats an Zelten erreichen und bald nicht mehr in der Lage sein werden, die Folgen der staatlichen Schikanepolitik abzufedern, haben die Ordnungskräfte heute Morgen weitere 52 Zelte beschlagnahmt“, schrieben die Human Rights Observers nach einer Räumungin Calais am 12. Mai.
Die letzte dieser routinemäßigen Räumungen vor den im Folgenden geschilderten Ereignissen fand am 1. Juni statt und betraf vier Camps.
Das Camp in den Magnésia-Hallen
Während dieser Zeit wuchs ein schon länger bestehendes und als Unicorn bekanntes Camp im Stadtteil Virval zum Lebens- und Rückzugsort für zuletzt – je nach Quelle – etwa 600 bis 650 Personen, darunter eine Reihe von Familien mit Kindern. Solche großen Camps, bei denen es sich meist um Agglomerationen mehrerer kleinerer Siedlungen handelt, gab es in Calais seit den 2000er-Jahren immer wieder. Im vergangenen Jahr existierten sie zunächst im Industriegebiet Zone des dunes (Jungle, geräumt im Juli 2020), danach in einem Brachgelände am Krankenhaus (Hospital Jungle, teilgeräumt im Septmeber 2020) und nun in einem brachliegenden Gewerbeareal in Vivral.
Das Camp lag an einer Sackgasse an der Ausfallstraße Route de Saint-Omer, die nach einer früher dort ansässigen Firma Impasse Magnésia genannt wird. Das Gelände ist 60.000 m² groß und umfasst mehrere Hallen, die seit Jahren leerstehen. Bereits 2017, lange vor der Entstehung des Camps, berichtete eine Lokalzeitung von unhaltbaren Zuständen; das Gelände war in eine illegale Müllkippe verwandelt worden und war Schauplatz mehrerer krimineller Vorfälle; Anwohner_innen hatten Angst, es zu betreten.
Das Gelände reicht rückwärtig in die Nähe des Krankenhauses, an dessen gegenüberliegender Seite sich der Hospital Jungle erstreckte. Die Lebensbedingungen werden als inhuman beschrieben.
Am 27. Mai wurde im Camp ein Räumungsbeschluss des zuständigen Gerichts in Boulogne sur-Mer ausgehängt, der auf eine Klage des Grundstückseigentümers zurückgeht. Dieses Verfahren ist in Calais üblich, um Räumungen größeren Ausmaßes formal abzusichern; in der Regel dauert es nach dem Aushängen wenige Tage oder Wochen, bis die logistisch aufwändig Operation erfolgt.
1. Juni 2021, abends
Am Abend des 1. Juni kam es in der Impasse Magnésia offenbar zu einer Auseinandersetzung zwischen Migrant_innen. Wie die Zeitung La voix du Nord am folgenden Tag berichtete, war der Anlass der Auseinandersetzung unbekannt (allerdings brachte der Präfekt des Pas-de-Calais, Louis Le Franc, sie später mit Schmugglern in Verbindung). An der Auseinandersetzung sollen etwa 30 Personen beteiligt gewesen sein, die mit Messern bewaffnet waren. Dabei wurden vier der Beteiligten verletzt und mussten im Krankenhaus behandelt werden. Wie Anwohner_innen der Zeitung mitteilten, rückten kurz vor 23 Uhr etwa fünfzehn Fahrzeuge von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst an, etwa 60 Polizeibeamt_innen hätten mit „Schusswaffen in der Hand“ eingegriffen und die Situation beruhigt.
1./2. Juni, nachts
In der gleichen Nacht kam es zu einer weiteren Eskalation, allerdings mehrere Kilometer entfernt in der Nähe des Fährhafens bzw. des dorthin führenden Zubringers (Hafenringstraße). Bereits in der Nacht vom 13. auf den 14. Mai sollen rund hundert Geflüchtete versucht haben, dort auf das Erweiterungsgelände des Hafens zu gelangen und Sperren auf dem Zubringer zu erreichten, um Lastwagen anzuhalten. Über die Ereignisse, deren genauer Verlauf nicht ganz klar ist, war landesweit berichtet worden (siehe hier).
In der Nacht auf den 2. Juni scheint es zu einer vergleichbaren Situation gekommen zu sein, die dann eskalierte. La voix du Nord berichtete am nächsten Tag:
„Wenige Stunden nach der Schlägerei zwischen etwa dreißig Migranten in der Sackgasse von Magnesia […] kam es um 3:30 Uhr zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Flüchtlingen. Sie hielten fast die ganze Nacht durch. Die Feindseligkeiten begannen in der Rue des Oyats, in der Zone des dunes, als eine Kompanie der CRS zum Ziel von Steinen und anderen Geschossen wurde, die von etwa fünfzig Personen geworfen wurden. Eine Zahl, die im Laufe der Stunden nur noch zunahm. Gegen 5 Uhr morgens befanden sich etwa 150 Migranten am Rande der Hafenumgehungsstraße. Der Höhepunkt der Konfrontationen fand gegen 6.30 Uhr statt, als Hunderte von Personen, laut mehreren übereinstimmenden Quellen 300 mit Eisenstangen und Stöcken bewaffnete Exilierte, in der Nähe des Epopee-Stadions die CRS angriffen. Hunderte von Tränengasgranaten wurden geworfen, um die Personen zu zerstreuen. In der Zwischenzeit hatten etwa 30 Migranten versucht, ‚mit Äxten und Golfschlägern in den Hafen einzubrechen‘, so die Staatsanwaltschaft Boulogne-sur-Mer. Ein 22-jähriger Eritreer wurde festgenommen und in Gewahrsam genommen. Kurz vor 7 Uhr kehrte dann Ruhe ein.“
Während dieser Stunden, so berichtet die Zeitung weiter, hätten dreißig CRS-Angehörige Prellungen davongetragen und sieben seien verletzt im Krankenhaus behandelt worden. Einer der Beamten sei „ernsthafter“ verletzt worden, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Verletzung der übrigen nur leicht gewesen sein können. Auch seien Polizeifahrzeuge beschädigt worden. Im gleichen Artikel spricht ein Vertreter der Polizeigewerkschaft Alliance Nationale Police CRS von „gewalttätigen Migranten […], die nicht mehr zögern, bewaffnet zu kommen und die Kollegen schwer zu verletzen.“ Auf ähnliche Weise sollten sich in den folgenden Tagen verschiedene Politiker_innen, darunter die Anführerin des rechtsextremen Rassemblement National, Marine Le Pen, äußern.
Die Polizei selbst veröffentlichte per Twitter ein Foto, das einige der „Wurfgeschosse“ (projectiles) der Migrant_innen zeigt. Es handelt sich um Konservendosen. „Unsere Kollegen haben Mut bewiesen angesichts dieser Gewalt und der Schikanen bestimmter Verbände“, heißt es dazu. Indirekt wurden die zivilgesellschaftlichen Organisationen damit zu Mittäter_innen erklärt, was recht anschaulich die Weltsicht der bewaffneten Macht illustriert.
2. Juni 2021, vormittags
Am folgenden Morgen filmten die Human Rights Observers, wie die CRS offenbar noch immer CS-Gas gegen Migrant_innen einsetzte. Das Video zeigt mehrere große Schwaden, was auf einen großflächigen Einsatz des Gases schließen lässt.
Wie die Gruppe berichtet, wurden außerdem Gummigeschosse eingesetzt. Vier Exilierte seien verletzt worden, darunter ein Minderjähriger durch ein Gummigeschoss. Fotoaufnahmen (siehe zu Beginn dieses Beitrags) zeigen eine große Menge leerer CS-Gas-Kartuschen und einzelne Gummigeschosse. Diese waren am 2. Juni als Spuren des polizeilichen Anteils an der Gewalteskalation eingesammelt worden. Die schiere Menge der Kartuschen lässt das Ausmaß der Gewalt erahnen.
Der in dieser Nacht verhaftete junge Mann aus Eritrea wurde am 4. Juni vom Gericht in Boulogne-sur-Mer zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt. Einem Zeitungsbericht zufolge lebte er erst kurze Zeit in Calais. Er habe zugegeben, Gegenstände geworfen, nicht aber, Polizisten verletzt zu haben. „Ich schlief in meinem Zelt und sah Tränengas um uns herum, deshalb habe ich Wurfgeschosse geworfen“, habe er erklärt. In dem Bericht heißt es weiter, seine Festnahme sei dadurch möglich gewesen, dass die CRS ihn mit einem Gummigeschoss in den Nacken getroffen habe. Bei dem Festgenommenen sei dann ein Cutter gefunden worden, was ihn, so der Anwalt, zum „Sündenbock für diese Nacht der Gewalt“ gemacht habe. Cutter werden üblicherweise als Werkzeug benutzt, um die Planen von Lastwagen zu zerschneiden und sich darin zu verstecken. Offenbar war der Cutter als Messer ausgelegt worden.
4. Juni 2021: Die Räumung
Im medialen und politischen Diskurs scheint die Räumung des Camps an der Impasse Magnésia als Reaktion auf die nächstliche Eskalation verstanden worden zu sein, obschon sich beide Ereignisse in unterschiedlichen Teilen der Stadt abgespielt hatten und die Räumung spätestens seit dem 27. Mai feststand.
Die Räumung wurde formal als eine Operation zum Schutz bzw. zur Unterbringung (im euphemistischen Behördenjargon: mise à l’abri) der Betroffenen ab 6 Uhr morgens durchgeführt. Etwa 500 Personen wurden in 15 Bussen Bus zu Centres d’accueil et d’hébergement du département (CAES) in die Region Hauts-de-France (so l’Auberge des migrants) oder im Departement Pas-de-Calais (so die Lokalpresse) gebracht. Nach Angaben der Präfektur wurde außerdem „ein Dutzend“ Personen festgenommen.
L’Auberge des migrants erklärte einen Tag später: „Viele verloren Zelte, Betten, Decken und manchmal sogar persönliche Gegenstände, Papiere, Geld, medizinische Dokumente. Die meisten von ihnen waren sehr schnell wieder in Calais, weil sie nicht in Kontinentaleuropa bleiben können oder wollen.“
Noch am Tag der Räumung begann ein Abbruchunternehmen mit dem Abriss der neun bis dahin bewohnten Hallen. Verbunden mit einer Polizeipräsenz vor Ort soll dies, so der Präfekt, die Rückkehr der Geräumten unmöglich machen. Für die gesamten Arbeiten wird etwa ein Monat veranschlagt. Danach sollen dort Wohnhäuser errichtet werden.
„Wie nach jeder Massenvertreibung“, so schreibt l’Auberge des migrants weiter, „sind die Exilanten gezwungen, neue Orte zum Überleben zu finden. Später werden sie wieder vertrieben […]. Der Stress, der durch diese schwierigen Überlebensbedingungen entsteht, treibt die Exilierten dazu, Risiken einzugehen, um den Kanal zu überqueren, und löst manchmal Kämpfe oder verzweifelte Versuche aus, in den Hafen einzudringen.“