Die Zahl der erfolgreichen Channel crossings ist Anfang August auf über zehntausend angestiegen. Bereits am 21. Juli war die Gesamtzahl des Vorjahres von rund 8.500 Passagen überschritten worden (siehe hier). Wie die BBC nun meldet, erreichten am 4. August 482 Exilierte in 21 Booten die Insel, gefolgt von 475 in 15 Booten am 5. August. Dies stellt einen neuen Höchstwert dar. Zum Vergleich: Der am stärksten frequentierte Tag des Vorjahres war der 2. September 2020 mit 416 Booten; gleichzeitig war der September der bis dahin am stärksten frequentierte Monat überhaupt. Die Gesamtzahl der Bootspassagen seit Jahresbeginn beträgt nach Angaben der britischen Behörden nun 10.711 Personen, den Kanal durchquert hatten sie in über 440 Booten.
Ungeachtet der stärkeren Küstenüberwachung auf französischem Gebiet ist die Erfolgsaussicht für die Bootspassagier_innen weiterhin hoch. So standen den 475 erfolgreichen Ankünften am 5. August sechs von den französischen Behörden unterbundene Überfahrten mit 138 Personen gegenüber; am 4. August lag das Verhältnis bei 482 zu 246 und am 3. August bei 281 zu 20. Gleichzeitig hat sich die Abfahrtregion der Boote von der belgischen Grenze bis zur Normandie ausgeweitet, während die Zahl der heimlichen Einreisen in Lastwagen, so der BBC-Journalist Simon Jones, signifikant zurückging.
Der vom britischen Innenministerium im vergangenen Jahr zur Koordinierung der Maßnahmen eingesetzte Clandestine Channel Threat Commander Dan O’Mahoney nannte die neuen Zahlen „inakzeptabel“, weshalb man „an allen Fronten aktiv“ sei. Wie Jones weiter berichtet, besuchten O’Mahonny und der für Migration zuständige Staatssekretär Chris Philp in dieser Woche Nordfrankreich, um die dortigen Behörden zu fragen, „was schiefgegangen ist“. Philp erklärte mit Blick auf die kürzlichen Vereinbarungen beider Staaten zur Bekämpfung der Bootsüberfahrten (siehe hier), er wolle durch den Besuch sicherstellen, „dass die von uns bereitgestellten neuen Mittel, die zu einer Verdoppelung der Patrouillen und einem verstärkten Austausch von Informationen geführt haben, der britischen Allgemeinheit zugute kommen.“
Mit der zehntausendsten gelungenen Überfahrt in diesem Jahr ist zwar nicht wirklich eine neue Situation eingetreten, doch besitzt der Übergang in den fünfstelligen Zahlenbereich sehr wohl eine starke symbolpolitische Komponente. Vor diesem Hintergrund rücken immer neue Maßnahmen in den Bereich des Möglichen (siehe hier). Ein aktuelles Beispiel ist ein Frontex-Einsatz am Ärmelkanal.
Nachdem Innenminister Gérald Darmanin bei einem Calais-Besuch im Juli eine Frontex-Unterstützung ins Spiel gebracht hatte, zitierte die Zeitung La voix du Nord am 5. August das französische Innenministerium mit der Aussage, bei einem möglichen Frontex-Einsatz gehe es darum, „Frankreich […] bei der Kontrolle der Außengrenzen, der Bekämpfung der illegalen Einwanderung und der Rettung von Menschen in Seenot zu unterstützen“. Das Ersuchen des Ministers an Frontex beinhalte die Entsendung von „Luftfahrzeugen“ sowie „Überflüge des Gebiets“. Allerdingts könne das Ministerium weder die Anzahl noch das Ankunftsdatum der Frontex-Bediensteten benennen.
Außerdem beruft sich das Blatt auf den konservativen Abgeordneten für die Region Calais, Pierre-Henri Dumont, der erklärte: „Ich habe diesen Vorschlag schon vor zwei Jahren gemacht, und damals sagte mir der Innenminister, dass es kompliziert sei.“ Im Juni sei Dumont nach Lesbos gereist und habe sich dort mit Frontex-Vertreter_innen getroffen. Der Ageordnete verwies insbesondere auf deren Fachwissen in Bezug auf die „Bekämpfung der illegalen Überfahrt über das Meer“.
Nach Ansicht des Rechtswissenschaftlers Yves Pascouau wäre ein Frontex-Einsatz in diesem Kontext zwar paradox, weil eine zur Verhinderung von Einreisen in die EU geschaffene Institution dann Ausreisen aus der EU bekämpfen würde, dennoch aber rechtlich zulässig. Im Interview mit La voix du Nord verweist er auf die zunehmend intransparente Struktur von Frontex und die Verletzung von Grundrechten bei Pushbacks. Zur Lage in der Kanalregion erinnert er auf das Scheitern der bisherigen Politik: „Wir befinden uns in einer Logik des Schutzes von Raum und nicht von Menschen. Wenn eine Politik nicht funktioniert, muss man einen anderen Ansatz in Betracht ziehen. Ich denke, dass das, was Enrico Letta [als früherer Ministerpräsident] in Italien mit der Operation Mare Nostrum getan hat, eine davon ist: sich um die Menschen zu kümmern, anstatt sie nur zu kontrollieren.“