Die Hungerstreikenden in der Calaiser Kirche Saint-Pierre (siehe hier und hier) konnten am 27. Oktober 2021, dem 17. Tag ihres Protests, eine erste Reaktion der französischen Regierung verzeichnen. Zwar sind ihre Forderungen nach wie vor nicht erfüllt. Doch reiste erstmals ein Abgesandter der französischen Regierung zu Gesprächen mit den Hungerstreikenden nach Calais.
Die französische Regierung hatte zunächst nicht auf den „Hunger an den Grenzen“ (faim aux frontieres), wie die Streikenden ihre Aktion auch nennen, reagiert. Französischen Medien zufolge äußerte sich Präsident Emmanuel Macron erstmals am 25. Oktober öffentlich dazu. Wie berichtet wird, wurde er während eines Besuchs in Montbrison im Departement Loire von einer Frau auf den Hungerstreik angesprochen und gefragt, ob er nach Calais fahren und die Hungerstreikenden treffen werde. Sichtlich verlegen habe der Präsident zunächst Antworten gegeben, die darauf schließen ließ, dass er über den Protest nicht oder nur vage informiert war. Schließlich habe er zugesagt, sich mit der Sache befassen zu wollen.
Am 27. Oktober traf nun der Leiter der französischen Einwanderungsbehörde OFII (Office français de l’immigration et de l’intégration), Didier Leschi, in der Kirche Saint-Pierre mit den Hungerstreikenden zusammen. Das Treffen fand genau fünf Jahre nach der mehrtägigen Räumung der Hütten-, Zelt- und Containersiedlung statt, die international als Jungle of Calais bekannt geworden war und deren Auflösung zu den zentralen Ereinissen der französischen Migrationspolitik zählt. Leschi hatte damals auf staatlicher Seite zu den Akteur_innen dieser Operation gehört, zu der auch die Verteilung der meisten Bewohner_innen auf ein landesweites Netz spezieller Zentren gehörte. Die seitdem in Calais praktizierte Politik ständiger Räumungen mit dem Ziel, die Herausbildung sogenannter Fixierungspunkte zu verhindern, bildet die Grundlage der polizeilichen Praxis, um deren Beendigung es in dem Hungerstreik vor allem geht.
Nach offizieller Sprachregelung handelte es sich bei Leschis Treffen mit den Hungerstreikenden um eine „Kontaktmission“ mit dem Ziel, durch Mediation eine Lösung der Krise zu erreichen. Die Hungerstreikenden selbst sprachen nach dem Treffen von einer „ersten Runde“, bei der ihre Forderungen „zum jetzigen Zeitunkt nicht berücktichtigt“ worden seien. Am folgenden Tag, dem heutigen 28. Oktober, folgte ein weiteres Gespräch Leschis in Anwesenheit der staatsunabhängig arbeitenden zivilgesellschaftlichen Organisationen. Wie der Calaiser Journalist Louis Witter mitteilt, blieb auch dies ohne greifbares Ergebnis: „Für die Streikenden ‚werden die Forderungen nicht gehört‘. Die Behörden schlagen lediglich vor, ‚die Exilierten am Tag vor der Räumung zu warnen‘.“ Zugleich sei deutlich geworden, dass „alle lokalen Verbände geschlossen hinter den Forderungen der Streikenden“ stehen. Die Hungerstreikenden erklärten außerdem, ihre Aktion fortzusetzen.
Leschi wird voraussichtlich am 3. November zu weiteren Gesprächen nach Calais zu reisen, in die er neben den unabhängigen auch die staatlich mandatierten Organisationen einbeziehen will. „Ich glaube, dass es uns gelingen muss, die Dinge zu verbessern, ohne dass jeder auf einer unnachgiebigen Position verharrt,“ zitiert ihn die Lokalzeitung La Voix du Nord.
Während einer Recherche in Calais gewannen wir den Eindruck, dass das „Hungern an der Grenze“ breite Solidarität erfährt und die drei Aktivist_innen ihrerseits entschlossen sind, ihren Hungerstreik fortzusetzen. Neben zivilgesellschaftlichen und politischen Gruppen besitzt die Aktion starken Rückhalt in der katholischen Kirche, was im Übrigen sogar ihr Ort unterstreicht: Die Kirche Saint-Pierre, die den Dreien aktiv zur Verfügung gestellt worden ist, ist eines der wichtigsten und größten Gotteshäuser der Stadt. Die mediale Resonanz ist auch international stark und der Protest findet zu einem Zeitpunkt statt, der nicht nur als fünfter Jahrestag der prominentsten aller Räumungen die Aufmerksamkeit noch einmal auf Calais lenkt. Mit wem wir auch diskutierten: So gut wie jede_r wies auf den beginnenden Präsidentschaftswahlkampf mit seinen von rechts gesetzten, aber von allen politischen Lagern aufgegriffenen Themen Migration und Islam hin. Die ebenso konsequent wie klug durchgeführte Aktion ist politisch nicht ignorierbar.