Erstmals ist am heutigen 4. November in Calais die routinemäßige Räumungen eines Camps von lokalen Aktivist_innen und Exilierten durch eine gewaltfreie Blockade verhindert worden. Die Aktion am 25. Tag des Hungerstreiks reiht in einen Zyklus von Protesten ein, der binnen weniger Wochen eine in den vergangenen Jahren nicht gekannte Dynamik entfaltet hat.
Betroffen von der verhinderten Räumung war das Old Lidl genannte Camp an der Rue du Beau Marais am östlichen Rand von Calais. Es befindet sich in der Nähe des auf den Lastkraftverkehr spezialisierten Gewerbegebiets Transmarck, wo in den vergangenen Wochen zwei Exilierte ums Leben gekommen waren (siehe hier und hier). Nach einer groß angelegten Polizeioperation und anschließenden Entwaldungen im Gebiet des Hospital Jungle (siehe hier und hier) hatten sich immer mehr Menschen im Old Lidl-Gelände angesiedelt. Wie ein Vertreter von Collective Aid, einer unabhängigen Hilfsorganisation, unserem Blog gegenüber berichtet, haben sich dadurch sowohl die Lebenssituation der Exilierten, als auch die Arbeitsbedingungen für die zivilgesellschaftlichen Versorgungsangebote nochmals verschlechtert. Weiterhin wird berichtet, dass die Beamt_innen zunehmend rabiat vorgehen und nicht davor zurückschrecken, den Exilierten Zelte oder Planen zu entreißen, wenn sie diese in Sicherheit bringen wollten.
Wie die Lokalzeitung La voix du Nord und der freie Journalist Louis Witter übereinstimmend berichten, waren Aktivist_innen von Utopia 56, Auberge des migrants und Human Rights Observers in Erwartung der alle 48 Stunden wiederholten Räumung anwesend. Es war der dritte Tag des Winterfriedens, während dem in Frankreich keine Zwangsräumungen durchgeführt werden dürfen und dessen Einhaltung die Hungerstreikenden einfordern (siehe hier).
Eine knappe Stunde nach Beginn der Aktion forderten Polizei und Gendarmerie alle Anwesenden auf, das Brachgelände zu verlassen, da es sich um privaten Grund und Boden handle, und setzten eine Frist von 45 Minuten. Die Fristsetzung entsprach einem der marginalen Zugeständnisse, die der staatliche Mediator Didier Leschi den Hungerstreikenden zuvor gemacht hatte. Nach Ablauf dieser Frist forderten die Aktivist_innen ihrerseits die Bereitstellung angemessener Unterkünfte, was den Hungerstreikenden in sehr eingeschränkter Weise ebenfalls zugestanden worden war. Polizei und Gendarmerie begannen daraufhin, das Gelände zu räumen, scheiterten jedoch am passiven Widerstand der Aktivist_innen und Bewohner_innen. Sie zogen sich zurück.
Die daraufhin zur Verstärkung herbeigerufene CRS setzte zu einem weiteren Räumungsversuch an, gab diesen jedoch ebenfalls auf. Nach insgesamt zwei Stunden war die Auseinandersetzung entschieden. Old Lidl wurde an diesem Tag nicht geräumt.
Gleichwohl hat die Aktion vor allem symbolischen Wert. Denn trotz ihres Erfolgs fanden am selben Tag mehrere vergleichbare Räumungen statt, wie die Human Rights Observers dokumentierten (siehe oben). Nach ihrer Zählung gehörte hierzu die tausendste Räumung in diesem Jahr.
Nach der Blockade gaben Utopia 56, Plate-forme des Soutiens aux Migrant.e.s und die oppositionelle Calaiser Stadträtin Louise Druelle eine öffentliche Erklärung ab, in der sie u.a. auf diese Problematik hinweisen: „Wir, die Unterstützer_innen der Hungerstreikenden, die sich seit 25 Tagen im Streik befinden, haben eine Menschenkette gebildet, um uns den täglichen Schikanen der Exilierten entgegenzustellen und sie anzuprangern. […] Wenn es uns gelungen ist, eine dieser Zerstörungen zu verhindern, so ist dies nur eine von vielen, denn wir konnten nicht verhindern, dass heute Morgen weitere Camps geräumt wurden. Wenn heute Morgen die Anwesenheit von Unterstützer_innen, Kameras und Journalist_innen die Polizei davon abhalten konnte, ihre Waffen einzusetzen, dann wissen wir, dass Situationen ganz anders sind, wenn sie außerhalb der Sichtweite stattfinden. Gegenüber der Polizei riefen wir dazu auf, keine Gewalt anzuwenden und prangerten die Unwirksamkeit dieser repressiven Politik durch einen Akt der Solidarität an. Wir fordern nicht die Aufrechterhaltung solcher Lebensorte, in denen unwürdige und unmenschliche Bedingungen herrschen, sondern die Aussetzung dieser nutzlosen und gewaltsamen Räumungen für die Zeit einer Winterpause, d.h. für einige Monate, um einen Dialog zu eröffnen und vernünftige Lösungen zu finden.“
Update, 7. November 2021: Drei Tage später, am 7. November, versuchten rund 50 Aktivist_innen erneut, eine Räumug desselben Camps durch eine Menschenkette zu verhindern. Dieses Mal gab die Polizei nicht nach und setzten vielmehr ohne Vorwarnung Gewalt und Tränengas gegen die Protestierenden ein. Die Exilierten waren gezwungen, sich und ihre Sachen in Sicherheit zu bringen, um ein paar Minuten später, nach dem Ende der Räumung, zurückzukehren.
Einen ausführlichen Bericht hierzu veröffentlichte der Blog Passeurs d’hospitalités: Une cinquantaine de soutiens entravent de nouveau l’expulsion du campement rue du Beau Marais à Calais.