Der Rückzug einer britischen NGO reisst eine Lücke in die zivilgesellschaftlichen Strukturen in Calais – und spielt der repressiven Grenzpolitik in die Hände. Auslöser ist ausgerechnet ein Flugblatt, in dem Verhaltenshinweise und Notfallnummern für den Fall einer Havarie gegeben wurden.
Mehr als fünf Jahre lang gehörte die britische NGO Help Refugees, die sich Anfang 2021 in Choose Love umbenannte, zu den tragenden Säulen der zivilgesellschaftlichen Geflüchtetenhilfe und Menschenrechtspolitik in Nordfrankreich. Ihr Beitrag bestand u.a. darin, die Arbeit lokaler Gruppen spendenbasiert mitzufinanzieren. Nachdem Choose Love vor einem halben Jahr gegen die Verteilung eines Flugblatts mit Sicherheitshinweisen für Bootsmigrant_innen eingeschritten war (siehe hier), teilte die Organisation Anfang November mit, dass sie nahezu ihr gesamtes Engagement in Nordfrankreich beendet. Sieben in Calais und Grande-Synthe tätige Organisationen verlieren nun einen wesentliche Teil ihrer finanziellen Basis. In einer ohnehin angespannten Situation wird dies sowohl auf die Versorgung der Exilierten mit elementaren Hilfeleistungen durchschlagen, als auch die menschenrechtspolitische Arbeit in der Region schwächen. Neue Strukturen zur Finanzierung der zivilgesellschaftlichen Arbeit zu schaffen, wird daher eine der wesentlichen Herausforderungen der kommenden Monate sein. Zugleich wirft der Fall grundlegende Fragen über den Zusammenhang von philantropischem Humanitarismus und repressivem Grenzregime auf.
Der Rückzug und sein Ausmaß
Als 2015 mehrere Camps in Calais aufgelöst und ihre Bewohner_innen von den Behörden auf einem einzigen Platz am Rand der Stadt konzentriert wurden, der dann binnen weniger Monate auf über 5.000 und ein Jahr später auf über 10.000 Bewohner_innen anwuchs und international zum Inbegriff des Jungle von Calais wurde, rief eine Handvoll britischer Besucher_innen in ihrem privaten und beruflichen Umfeld spontan zu Spenden auf. Ihre Initiative hatte eine unerwartete Resonanz und markiert die Geburtsstunde von Help Refugees. Die neue Organisation fand sich rasch in der dynamischen Situation rund um den Jungle zurecht, der in dieser Phase eine hohe mediale Aufmerksamkeit erfuhr und den Impuls für die Entstehung zahlreicher ähnlicher Initiativen gab. Die Verankerung der Gründer_innen in kreativwirtschaftlichen und medienaffinen Berufsfeldern und die Unterstützung durch prominente Persönlichkeiten aus Popmusik und Film kamen ihr dabei zu Gute und sicherten langfristig einen Zufluss an Spendengeldern. Auch der heutige Name Choose Love wurde in dieser Calaiser Gründungsphase entworfen und als Slogan beispielsweise auf T-Shirts verwendet, die volunteers im Jungle trugen. Während Help Refugees in Calais eine Schlüsselstellung behielt und bis 2021 auch Initiativen förderte, die erst nach der Räumung des großen Jungle entstanden waren, entwickelte es sich in Großbritannien zu einer international tätigen NGO, die nach eigenen Angaben außerhalb des Landes in 22 Staaten mit rund 300 Projekten aktiv wurde.
Am 1. November veröffentlichte Choose Love auf Instagram die oben abgebildete Nachricht an die Unterstützer_innen: „In diesem Jahr haben wir uns in einer Situation wiedergefunden, in der wir einige schwierige Entscheidungen treffen mussten, und wir haben Neuigkeiten, die wir schweren Herzens überbringen. Infolge zahlreicher Faktoren, darunter die Pandemie, haben wir eine interne und externe Überprüfung unserer Strategie eingeleitet. Ab Januar 2022 werden wir unsere gesamte Unterstützung in Nordfrankreich auf unbegleitete Minderjährige konzentrieren; @ecpat und @safepassageuk werden unsere einzigen Partner in diesem Gebiet sein. Die [übrigen] Organisationen wurden 6 Monate vor dem Datum, an dem die Zuschüsse nicht mehr verlängert werden können, darüber informiert.“ Es folgen ein Rückblick auf die Entstehung in Calais, eine Referenz an die Zehntausenden freiwilliger Helfer_innen, ein Bedauern über die anhaltende Ungerechtigkeit und andere Höflichkeiten.
Aus der Mitteilung geht nicht viel hervor, aber immerhin soviel, dass der Rückzug im laufenden Jahr beschlossen wurde, dabei „zahlreiche Faktoren“ eine Rolle gespielt haben und „eine interne und externe Überprüfung unserer Strategie“ (an internal and external review of our strategy) den Ausschlag gegeben habe. Welche Faktoren dies außer der Pandemie waren, warum, von wem und nach welcher Maßgabe die Überprüfung durchführt wurde, worin der „externe“ Anteil bestand und worauf die strategische Neuausrichtung hinausläuft, wurde nicht gesagt. Ebenso wenig ist transparent, ob ein direkter oder indirekter Einfluss durch die britische Regierung genommen wurde. Auch die konkret betroffenen Organisationen nannte Choose Love nicht. Dies sind:
- Calais Food Collective
- Collective Aid
- Human Rights Observers
- Project Play
- Refugee Info Bus
- Refugee Women’s Center
- Woodyard
Diese sieben Organisationen bilden einen lockeren Verbund, der arbeitsteilig einen wesentlichen Teil der Grundversorgung mit Nahrung, Trinkwasser, Zelten und Brennholz gewährleistet und außerdem die Menschenrechtslage durch tägliche Präsenz bei Räumungen dokumentiert, Zugang zu rechtlichen und sozialen Informationen bietet, WLAN bereitstellt und spezielle Hilfen für Kinder und Frauen anbieten. Die Erfahrungen und Erkenntnisse dieser Gruppen sind in den vergangenen Jahren immer wieder für juristische und menschenrechtspolitische Interventionen genutzt worden, zuletzt etwa in einem Bericht von Human Rights Watch. Die Weiterförderung der beiden Projekte ECPAT und Safe Passage mit dem ausschließlichen Fokus unbegleitete Minderjährige kompensiert die Lücke, die der Rückzug von Choose Love hinterlässt, nicht ansatzweise.
Während einer Recherche, die wir Ende Oktober in Calais durchführten, war die Entscheidung von Choose Love noch nicht öffentlich gemacht worden. Gleichwohl waren die Folgen bereits greifbar. Vertreter_innen der einer betroffenen Organisation berichteten, dass sie mit verringerten finanziellen, räumlichen (Wegfall von Mitteln für die Miete) und personellen Ressourcen werden auskommen müssen, während die Anzahl der Exilierten höher ist als in den Vorjahren, der Winter bevorsteht und die Arbeit on the ground systematisch erschwert wird (siehe zuletzt hier).
Wie tief Choose Love in den zivilgesellschaftlichen Strukturen von Calais verankert war und welchen Schlag die Rückzugsentscheidung diesen versetzt, zeigen die Statements einiger anderer Organisationen, die der Guardian am 3. November veröffentlichte. So erklärte etwa die Gruppe Refugee Info Bus, zu dessen Aufgaben u.a. die Bereitstellung von WLAN und Lademöglichkeiten für Mobiltelefone gehört: „Ihr Rückzug ist ein schwerer Schlag, der reale Konsequenzen in Calais haben wird. Ein funktionierendes Telefon ist hier eine Lebensader. […] Letzte Woche half der Info Bus mehr als 500 Menschen, ihre Telefone aufzuladen und Zugang zum Internet zu erhalten. Die katastrophale humanitäre Lage in Calais hält an, und angesichts des bevorstehenden harten Winters suchen wir dringend nach alternativen Finanzierungsmöglichkeiten.“ Das Calais Food Collective erklärte: „Wir werden von der Streichung der Unterstützung durch Choose Love stark betroffen sein. Es ist äußerst wichtig, dass unsere grundlegenden Dienste nicht gekürzt werden – eine permanente Wasserversorgung für diejenigen, die keine andere Wasserquelle haben, Lebensmittel und Kochausrüstung sind von unschätzbarem Wert für diejenigen, die sich in einem Zustand nahezu permanenter Unsicherheit befinden.“
Die betroffenen Initiativen verlieren, so der Guardian, mehrere Hunderttausend Euro, bei einigen sind nahezu die gesamten Einkünfte betroffen. „Aufgrund des Rückzugs unseres gemeinsamen Großspenders können wir unsere Arbeit nach Dezember möglicherweise nicht mehr fortsetzen,“ schreiben die betroffenen Gruppen in einem gemeinsamen Aufruf unter dem Titel Calais Appeal, in dem sie ihre Spendenkampagnen bündeln.
Nach der Havarie, bei der am 24. November 27 Menschen vor Calais ertranken, verwies Choose Love auf Instagram übrigens wohlwollend auf Calais Appeal, allerdings ohne das Faktum des eigenen Rückzugs anzusprechen und daran zu erinnern, mit welchem irritierenden Schritt er eigentlich begann.
Eine irritierende Vorgeschichte
Vor einem halben Jahr berichteten wir über das Einschreiten einer damals noch nicht namentlich genannten britischen NGO gegen die Verteilung eines Flugblatts an Exilierte in Nordfrankreich, in dem Warn- und Sicherheitshinweise sowie Notrufnummern für potenzielle Channel crossers zusammengestellt waren (siehe hier). Die britische NGO war Choose Love. Die Migrationsforscher_innen Thom Tyerman, Travis Van Isacker, Philippa Metcalfe und Francesca Parkes sind dem Fall in Zusammenarbeit mit den nicht betroffenen Gruppen Watch the Channel und Calais Migrant Solidarity nachgegangen. In einem Beitrag für den Blog Border Criminologies des Centre for Criminology der Universität Oxford schrieben sie im Oktober:
„Ende Mai 2021 erhielten NGOs, die in Nordfrankreich mit Flüchtlingen arbeiten, eine E-Mail von ihrem britischen Geldgeber Choose Love, in der sie angewiesen wurden, die Verteilung von Flugblättern zur ‚Sicherheit auf See‘ einzustellen. Er wies auch Maison Sesame, das Unterkünfte für Geflüchtete in Nordfrankreich bereitstellt, an, keine Leute zu beherbergen, die ins Vereinigte Königreich zu gelangen versuchten. Nach eigenen Angaben wurde Choose Love von den Anwält_innen darauf hingewiesen, dass die ‚Sicherheit auf See‘-Flugblätter möglicherweise gegen das britische Einwanderungsgesetz verstoßen, das die Beihilfe zur illegalen Migration regelt. Daher änderten sie ihre Verträge und verweigerten allen Organisationen, die die Flugblätter weiter verteilen, die Finanzierung.“ Trotz des berechtigten Einwands, dass die bereitgestellten Informationen der Rettung von Leben dienten sowie frei verfügbar und in keiner Weise strafbar seien, „hat das Dekret aus London eine abschreckende Wirkung, da viele Organisationen befürchten, ihre Arbeit ohne britische Finanzierung nicht fortsetzen zu können.“
Genau dies ist nun eingetreten. Dass ausgerechnet die Bereitstellung potenziell lebensrettender Informationen den Rückzug von Choose Love auslöste, wirkt angesichts der aktuellen Todesfälle auf See extrem irritierend. Dies begründet den Verdacht, dass Choose Love auf Druck der britischen Regierung gehandelt hat, einem befürchteten politischen bzw. rechtlichen Konflikt aus dem Weg gehen wollte oder in einen Zielkonflikt bei der Mobilisierung von Spenden geraten ist. Der im Frühjahr veröffentlichte New Plan for Immigration des britischen Innenministeriums und der darauf basierende Entwurf eines restriktiven Einwanderungsrechts (Nationality and Borders Bill) richten sich explizit gegen die Migration per Boot und kriminalisieren in der Tat auch bislang legale Hilfen. „Es ist gefährlich, die illegale und unnötige Überfahrt über den Ärmelkanal zu fördern, die von gewalttätigen kriminellen Banden unterstützt wird, die vom Elend profitieren“, zitiert der Guardian in seinem bereits genannten Artikel ein Statement des Innenministeriums zum Rückzug von Choose Love.
„Angesichts der feindseligen Agenda, die dem Nationaity and Borders Bill zugrunde liegt, ist die Vorsicht vor einer Kriminalisierung verständlich“, schrieben die Migrationsforscher_innen in Border Criminologies. „Aber anstatt diese Möglichkeit zu minimieren, riskieren die Aktionen von Choose Love, sie noch wahrscheinlicher zu machen. Ohne Aufforderung oder rechtlichen Präzedenzfall haben sie es auf sich genommen, bestimmte Formen der Unterstützung als (potenziell) kriminell zu definieren und damit ihre eigene Distanz und Missbilligung dieser Arbeit zu signalisieren. Mit diesem präventiven Schritt wird die Grenze im Namen des Vereinigten Königreichs durchgesetzt, indem bestimmte Routen ins Vereinigte Königreich und jeder, der die Reisenden auf diesen Routen unterstützt, kriminalisiert werden. Sie ist potenziell wirksamer, als es der britische Staat selbst sein könnte, da er keine Rechtsgrundlage für sein Handeln nachweisen muss. Und genau wie bei der britischen Kriminalisierungs- und Sicherheitspolitik im Allgemeinen erhöht sie die Risiken und Gefahren für Geflüchtete, indem sie ihnen den Zugang zu potenziell lebensrettenden Informationen und Ressourcen verwehrt.“
Diese Kritik lässt sich auf die aktuelle Situation übertragen, denn auch sie zeigt eine solche Janusköpfigkeit philantropischen Engagements: Einerseits hat Choose Love einen Teil der vom Staat nicht wahrgenommenen Verpflichtungen zur Existenzsicherung der Exilierten als privater Akteur übernommen, andererseits aber eben auch privat darüber entschieden, die Mittel zu entziehen – ob auf politischen Druck oder aufgrund einer selbstgewählten strategischen Neuausrichtung, ist in dieser Hinsicht unerheblich. An diesem Punkt verändert die NGO ihr Wirkmacht diametral: Sie steht der Schaffung eines prekarisierten und entmenschlichenden Vorfeldes der Grenze, wie es die heutigen Camps in Calais sehr viel drastischer repräsentieren als in den Jahren 2015/16, nicht mehr entgegen, sondern weitet es aus. Genau dies geschieht momentan in Nordfrankreich.
Update, 12. Dezember 2021: Inzwischen veröffentlichte das britische Recherchekollektiv Corparate Watch einen Hintergrundbericht zu Choose Love, dem Flugblatt mit Hinweisen zur Sicherheit auf See und dem schlussendlichen Rückzug aus Calais. Der Bericht beleuchtet insbesondere Zusammenarbeit von Choose Love mit der finanzstarken Spendenplattform Prism und zeigt Möglichkeiten informeller Einflussnahme gegen ein zivilgesellschaftliches Agieren auf, das über puren Humanitarismus hinausweist, indem es politische Kontexte anspricht.