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Channel crossings & UK Solidarität

Ein Rettungsschiff für den Ärmelkanal

Interview mit Channel Rescue

Der Ärmelkanal bei Calais. (Foto: Th. Müller)

English version below

Channel Rescue entstand 2020 angesichts der wachsenden Zahl von Menschen, die den Ärmelkanal per Boot überquerten. Voraussichtlich wird die britische Organisation ab diesem Jahr mit einem Rettungsschiff auf dem Ärmelkanal präsent sein. Es wäre das erste Schiff einer zivilgesellschaftliche Initiative für Geflüchtete an dieser neuen EU-Außengrenze überhaupt – ein Projekt, das aus unserer Sicht jede nur mögliche Unterstützung verdient. Wir haben mit Steven von Channel Rescue darüber gesprochen, wie sich die Situation an der Kanalroute momentan verändert. Das Interview wurde schriftlich geführt.

Ihr seid eine der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die am intensivsten zur Migration über den Ärmelkanal arbeiten. Im vergangenen Jahr hat sich die Zahl der Migrant_innen, die den Kanal per Boot durchquert haben, mehr als verdreifacht. Was außer diesem Anstieg hat sich noch verändert?

Es hat eine Reihe von Veränderungen gegeben, die dazu geführt haben, dass die Leute häufiger diese Überfahrten machen. Die Veränderungen in Calais wie etwa Zäune, Klingendraht und verstärkte CRS-Patroillen rund um den Hafen und die Stadt haben frühere Reisemöglichkeiten wie das Verstecken in einem Lastwagen schwieriger gemacht. Angesichts dieser Veränderungen haben sich auch die Kosten für die Überfahrt verändert und Dinghies sind nun günstiger als andere Methoden.

Wie würdest du euer Projekt im Vergleich zur zivilen Seenotrettung im Mittelmeer sehen?

Es gibt natürlich Ähnlichkeiten zu anderen Organisationen in der Ägäis und im Mittelmeer, aber der Kontext im Ärmelkanal ist signifikant anders, beispielsweise sind dort weniger Leute auf weniger Booten. Der Ärmelkanal ist jedoch stärker gezeitenabhängig und umfasst die am stärksten befahrenen Schifffahrtswege der Welt.

Auch wenn noch kein Rettungsboot einsatzbereit ist, so arbeitet ihr ja trotzdem. Was man aus der Distanz mitbekommt, ist vor allem eure Arbeit an der Küste. Was genau müssen wir uns darunter vorstellen?

Wir organisieren Teams von Freiwilligen, die den Ärmelkanal von der Küstenlinie aus auf Dinghies absuchen, insbesondere auf solche, die in Seenot geraten sind. Während unseres Einsatzes zeichnen wir auch die Aktivitäten der Border Force auf, um sicherzustellen, dass sie sich an die Gesetze hält. Wenn nötig, können wir auch denen, die anlanden, Unterstützung bieten. Demnächst werden werden wir auch unsere ‚Rapid response‘-Teams entlang der Küste einsetzen.

Es ist uns auch gelungen, das Bewusstsein für das Geschehen im Ärmelkanal schärfen, und wir konnten in Zeitungen wie der New York Times und der Washington Post darüber berichten. Ebenso in einigen kanadischen, französischen und kurdischen Nachrichtenmedien.

Durch eure Arbeit an der Küste solltet ihr doch viel von dem mitbekommen, was auf dem Kanal geschieht. Was beobachtet ihr?

Letztes Jahr haben wir beobachtet, wie die Border Force Pushbacks einübt, die wir nach internationalem Seerecht für illegal halten. Aus diesem Grund haben wir rechtliche Schritte Schritte gegen Priti Patel, die Innenministerin, eingeleitet und Spenden zur Unterstützung dieses Verfahrens gesammelt. Wir gehen davon aus, dass wir noch Anfang dieses Jahres vor den High Court ziehen werden.

Was geschieht mit den Migrant_innen, nachdem sie die Küste erreicht haben? Hat sich ihre Situation gegenüber den Vorjahren verändert?

Als Channel Rescue liegt unser Fokus auf den Ereignissen auf See und daher sind wir kaum in das involviert, was geschieht, wenn die Leute angekommen sind und inhaftiert werden. Wir waren alarmiert, als wir einen kürzlich erschienenen Bericht der HM Inspectorate of Prisons (Gefängnisinspektion) lasen, der die von der Border Force genutzten Hafteinrichtungen im Hafen von Dover behandelt. Der Bericht hebt hervor:

  • „Das Personal der Einwanderungsbehörde hatten in den vorausgegangenen drei Monaten in Tug Haven bei 38 Gelegenheiten Gewalt angewendet. … Aus Aufzeichnungen geht hervor, dass in Tug Haven bei einzelnen Gelegenheiten aktivere Gewalt angewendet wurde, darunter Schmerzreiz-(pain-compliance) Techniken. Beamte trugen keine Körperkameras und es gab kein formales Meldeverfahren für Gewaltanwendung. Die Zahl der gemeldeten Fälle der Anwendung unmittelbaren Zwangs stimmte nicht mit der Zahl überein, die wir gesehen haben.“
  • „Wir sahen außerdem Belege dafür, dass sehr junge und vulnerable unbegleitete Minderjährige über lange Zeiträume festgehalten wurden, oft zusammen mit Erwachsenen. In einem Fall wurde ein 13jähriger Junge über 64 Stunden im Frontier House festgehalten, und in einem anderen Fall wurde ein 12jähriges Mädchen, das angegeben hatte, körperliche und seelische Misshandlungen erlitten zu haben, 15 Stunden lang über Nacht in der KIU [Kent Intake Unit, Dover] festgehalten – aus den elektronischen Aufzeichnungen ging nicht hervor, ob sie getrennt von Erwachsenen und Jungen festgehalten wurde. Bei unserem Besuch sahen wir ein 17 jähriges Mädchen, das über Nacht zusammen mit etwa 30 Männern, darunter ein ehemaliger Straftäter, in einem Haftraum festgehalten wurde. Wir sahen auch einen Fall, in dem ein achtjähriges Mädchen in schlechter gesundheitlicher Verfassung in Tug Haven und der KIU insgesamt 37 Stunden festgehalten wurde – uns wurde gesagt, das Personal in Tug Haven habe vergessen, dass sie und ihre Geschwister dort waren.“
  • „Fast alle von uns befragten Inhaftierten sagten uns, dass ihnen niemand erklärt habe, was als nächstes mit ihnen geschehen werde. Bei der Einweisung derjenigen, die in die KIU kamen, wurde nichts über den Zugang zur Rechtsberatung gesagt, obwohl dies auf der Checkliste für die Einweisung stand, und den Inhaftierten wurde bei ihrer Ankunft dort kein kostenloser Telefonanruf angeboten. Zwei lediglich englische A4-Plakate mit Nummern von Rechtsberatungsstellen hingen im Haftraum aus. Die Inhaftierten wurden bei den Einweisungsgesprächen nicht darauf hingewiesen und nichts spricht dafür, dass sie verstanden, worum es sich dabei handelte.“

Wie reagiert die lokale Bevölkerung auf die Migrant_innen und auf eure Arbeit?

Die Reaktion der lokalen Bevölkerung war gemischt. Zwar unterstützten einige Angehörige der lokalen Gemeinschaften unsere Arbeit und beteiligten sich als Freiwillige, doch steht eine beträchtliche Zahl denen, die über den Kanal gekommen sind, und uns kritisch gegenüber. Bei unseren Streifen hatten wir manchmal kleinere Auseinandersetzungen mit Passant_innen.

Es wurde auch über Aktivitäten von Rechtsextremist_innen berichtet. Was wisst ihr über diese Aktivitäten?

Wir wissen von Aktivitäten aus dem rechten Spektrum. Die meisten dieser Aktivitäten gehen von einer kleinen Gruppe von Aktivist_innen aus, die sich selbst ‚the Migrant Hunters’ nennen. In letzter Zeit bestand ihre Tätigkeit darin, die Leute zu fotografieren und zu beschimpfen, die von der Border Force aufgenommen und in Dover an Land gebracht wurden.

Ihr habt im vergangenen Jahr ein Training der Border Force für Pushbacks dokumentiert. Denkt ihr, dass dies wirklich geschehen wird, oder sehr ihr in dem Training eher Symbolpolitik?

Einem kürzlich erschienenen Artikel der Times zufolge könnte die Pushback-Taktik nun jeden Tag angewendet werden. Eine Quelle aus dem Innenministerium sagt dort: „Wir sind bereit, Migrantenboote zurückzudrängen. Es hat Gelegenheiten gegeben, bei denen die Grenzpolizei bereit war, um Zurückweisungen [von Booten] durchzuführen, aber die Bedingungen sind sehr eingeschränkt. Aber sie bleiben bereit, um diesen Monat eingesetzt zu werden“.

Das Vereinigte Königreich verändert gerade seine Migrationsgesetze in eine restriktive Richtung. Insbesondere die Strafverfolgung der Steuerleute wird verschärft. Wie schätzt ihr die weitere Entwicklung ein?

Das Gesetz über die Staatsangehörigkeit und die Grenzen (Nationality and Borders Bill) wird diejenigen, die die Überfahrt machen, kriminalisieren. In einem aktuellen Rechtsfall hat das Berufungsgericht jedoch festgestellt, dass Asylbewerber, die bei einer Überquerung des Ärmelkanals in kleinen Booten abgefangen wurden, nicht gegen das Gesetz verstoßen haben. Das Gesetz über die Staatsangehörigkeit und die Grenzen durchläuft noch weitere Phasen des Gesetzgebungsverfahrens, bevor es in Kraft tritt, sodass es in diesem Aspekt der Politik noch zu Änderungen kommen kann.

Auch die strafrechtliche Verfolgung der Beihilfe zur illegalen Einreise wird überarbeitet. Es wird befürchtet, dass zivilgesellschaftliche Solidarität zum Gegenstand von Strafverfolgung werden könnte. Was genau wird geplant und welche Konsequenzen könnte es für euch und für andere haben?

Wer die Überfahrt assistiert könne nach dem Gesetz über die Staatsangehörigkeit und die Grenzen strafrechtlich verfolgt werden; es gibt jedoch eine Klausel in der Gesetzgebung, die registrierten Flüchtlingshilfe-Organisationen eine Ausnahme von der Strafverfolgung gewährt. Wir befürchten, dass diejenigen strafrechtlich verfolgt werden, die bei der Anlandung helfen, aber keine registrierten Freiwilligen sind.

Eure Initiative ist in Deutschland nicht sehr bekannt und auch über die Channel crossings wird selten in den Medien berichtet. Benötigt ihr Unterstützung, und wie kann diese aussehen, wenn man nicht in der Kanalregion lebt, sondern beispielsweise in Deutschland?

Ja, wie benötigen Unterstützung. Im Moment sammeln wir Spenden für unsere CrowdJustice-Kampagne und bitten, uns durch regelmäßige Spenden über unsere Website zu unterstützen. Ab 2022 werden wir außerdem internationale Freiwilligen bitten zu kommen uns sich uns anzuschließen, allerdings müssen die Details noch geklärt werden.

Die Kanalregion wird seit Jahren mehr und mehr sekuritisiert und es ist nicht absehbar, wie lange dieser Prozess noch andauern wird. Gleichzeitig überquert eine steigende Zahl von Menschen die Grenze undokumentiert. Was erwartet ihr für die nächsten Jahre?

Wir gehen davon aus, dass die Situation so fortbesteht, wie sie ist, oder sich vielleicht noch verschlimmert, es sei denn, die britische Regierung und die EU verändern ihre Politik. Uns it auch klar, dass die Situation in Calais, Dunkerque und Nordfrankreich entsetzlich ist und wir erwarten nicht, dass sich das in naher Zukunft verbessert.

English version

Channel Rescue was founded in 2020 in response to the growing number of people crossing the English Channel by boat. It is expected that the British organisation will be present with a rescue ship on the English Channel from this year. It would be the first ever ship of a civic initiative for refugees at this new EU external border – a project that, from our point of view, deserves all possible support. We spoke to Steven from Channel Rescue about how the situation on the Channel route is currently changing. The interview was conducted in writing.

You are one of the civic initiatives that intensely works with the migration across the Channel. Last year, more than three-times as many migrants crossed the Channel with boats than in 2020. What else beside this increase has changed?

There have been a number of changes which has resulted in people making more crossings. The changes in Calais such as fences, razor wire, increased CRS patrols etc. around the port and town has made previous means of making the journey, such as getting into a lorry, more difficult. Given these changes, the costs associated with making the journey have also changed and dinghies are now cheaper than other methods.

How would you view your project in comparison to the civic maritime rescue in the Mediterranean Sea?

While there are some similarities to other organisations in the Aegean and Mediterranean, the context in the Channel is significantly different e.g. in the Channel there are fewer people on fewer boats. The Channel, however, is more tidal and contains the world’s busiest shipping lanes.

Even if the lifeboat is not operative yet you are still working. What is seen from the outside is mostly your work on the shore. How exactly do we have to imagine this work?

We organise teams of volunteers to monitor the Channel from the shoreline for dinghies making the crossing, particularly those in distress. While on shift, we also record the activities of Border Force to ensure there are acting according to the law. When necessary, we are able to provide support to those making a landing. We will also be soon launching our ‚rapid response‘ teams along the coastline.

We have also been able to raise awareness of what is happening in the Channel and have featured in publications such as the New York Times and the Washington Post. As well as some Canadian, French and Kurdish news outlets.

Through your work on the shore you should be able to notice a lot of what is happening on the Channel. What are you observing?

Last year we observed Border Force practicing pushbacks, which we consider to be illegal under international maritime law. Given this, we’ve begun legal proceedings against Priti Patel, the Home Secretary and have fundraised to assist with this lawsuit. We are expecting to be in the High Court early this year.

What happens to the migrants after they reach the shore? Have their situations and perspectives changed since the previous years?

As Channel Rescue is focussed on events on the sea, we do not have much involvement in what happens after people arrive and they are detained. We were alarmed at reading a recent report by the HM Inspectorate of Prisons which focussed on the detention facilities used by Border Force in Dover harbour. The report highlighted:

  • „Immigration staff had used force on 38 occasions at Tug Haven in the previous three months…A log indicated that more active force had been used on a few occasions in Tug Haven, including pain-compliance techniques. Officers did not wear body-worn cameras and there was no formal process to report on use of force. The number of guiding holds reported did not tally with the number we saw“.
  • „We also saw evidence of very young and vulnerable unaccompanied children being held for long periods, often alongside adults. In one case, a 13-year-old boy was held in Frontier House for over 64 hours and in another, a 12-year-old girl who had disclosed suffering physical and mental abuse was held at the KIU for 15 hours overnight – electronic records did not specify whether she was held separately from adults and boys. During our visit, we saw a 17-year-old girl who had been held in a holding room with around 30 men overnight, including one ex-offender. We also saw a case in which an eight-year-old girl with serious health conditions was held at Tug Haven and KIU for a total period of 37 hours – we were told that staff at Tug Haven had forgotten that she and her siblings were there“.
  • „Almost all detainees we interviewed told us that no one had explained what would happen to them next. During induction for those who came to KIU, nothing was said about access to legal advice, although it was on the induction checklist, and detainees were not offered a free phone call when they arrived there. Two A4 posters in English only with numbers of legal services providers were displayed in the holding room. Detainees were not told about them during induction interviews and there was no evidence that they understood what they were“.

How do the local residents respond to the migrants and your work?

The response from local residents has been mixed. While there are some members of the local communities who are supportive of our work and volunteer with us, there is a significant number who are critical of those making the crossing and our work. At times on our shifts, we have had minor arguments with passers-by.

Activity from right-wing extremists has been reported. What do you realize of these activities?

We are aware of activities from the right-wing. Most of this activity comes from a small group of activists who call themselves ‘the Migrant Hunters’. Recently their activities have consisted of photographing and verbally abusing those people, who have been picked up by Border Force and, who are being disembarked in Dover.

You have documented a training of push-backs by the Border Force. Do you think these will really occur or do you see the training as symbolic politics?

According to a recent article in the Times, the pushbacks tactic could now be used any day. A Home Office source said: “We’re ready to turn back migrant boats. There have been occasions when Border Force have been ready to do turnbacks but the conditions are very limited. But they remain ready to be used this month.”

The UK is currently changing their migration laws in a restrictive direction. Especially criminal prosecution of boat drivers is intensified. How do you foresee the further development?

The Nationality and Borders Bill will criminalise those making the crossing; however, in a recent legal case asylum seekers who are intercepted while crossing the English Channel in small boats have not broken the law, the Court of Appeal has found. The Nationality and Borders Bill still has more stages in the legislative process before it is put into law so there may be amendments to this aspect of the policy.

Criminal prosecution for aid to illegal migration is revised as well. It is feared that civic solidarity could be subject to criminal prosecution. What exactly is planned and what consequences could it have for you and others?

People assisting those making the crossing may be prosecuted under the Nationality and Borders Bill; however, there is a clause in the legislation which offers registered refugee solidarity organisations an exemption to prosecution. We fear that those who will be prosecuted are individuals who assist a landing but are not registered volunteers.

Your initiative is not well-known in Germany, and also the Channel crossings are barely in the media. Do you require support? How could said support look like if one is not living in the Channel region, but for example in Germany?

Yes, we do require support. At the moment we are asking for donations to our CrowdJustice campaign and asking people to become a supporter by making a regular donation through our website. In 2022 we will also start asking for international volunteers to come and join us, although details are to be confirmed.

For years the Channel region has been secured more and more and it is not foreseeable how long this process will still go on for. However, at the same time, a rising number of humans have been crossing the border undocumented. What are you expecting in the next few years?

We are expecting the situation to continue as it is, or perhaps worsen, unless there is a change in policy from both the British government and EU. We also understand that the situation in Calais, Dunquerque and northern France is dire and we are not expecting this to improve in the near future.