Der 24. November 2021, an dem 27 Passagiere eines Schlauchboots im Ärmelkanal ertranken, rückt in der öffentlichen Wahrnehmung mehr und mehr in den Hintergrund. Eine neue Tragödie solcher Dimension kann sich unterdessen jeden Tag ereignen.
Das neue Jahr am Ärmelkanal fängt an, wie das alte endete: mit Toten, die dem anglo- französischen Grenzregime zum Opfer fielen. Gerade einmal zwei Wochen ist 2022 alt, als an einem zugigen Samstag- Abend etwa 100 Menschen vor dem Parc Richelieu zusammenkommen um ihrer zu gedenken. Beide stammen aus dem Sudan. Einer war 18 Jahre alt (siehe hier), der andere um die 20 (siehe hier). Wenn gesunde junge Menschen in diesem Alter sterben, fallen sie meist einem Verbrechen zum Opfer. Hier sterben sie, weil sie probieren, klandestin eine hochgerüstete Grenze zu überqueren.
Die Art, wie sie umkamen, steht für die beiden lebensgefährlichen Arten in Ermangelung sicherer Passagen über den Kanal zu gelangen: zuerst ein Unglück bei einer Schlauchboot-Überfahrt. Ertrinken im eiskalten Wasser der Nordsee, das ist der neue Tod an der Opalküste, der seit zwei, drei Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, weil er zu erheblichen Turbulenzen in der Beziehung zwischen Frankreich und Großbritannien im Post-Brexit-Zustand führt. Einen Tag später fordert der alte Tod, der seit Jahren immer wieder eintritt, ein Opfer: ein Sturz vom LKW, der den jungen Sudanesen anschließend überfährt.
Als tragische Un-, Vor- oder Zwischenfälle wurden diese Situationen oft beschrieben. Mindestens 342 Personen starben hier seit 1999. Soweit bekannt, stehen ihre Namen auf einem Banner, das am Samstag abend, umringt von Teelichtern, auf dem Boden vor dem Park liegt und um das sich die Trauergemeinde aufgestellt hat. Es sind 342 Personen, denen nicht einfach nur etwas Schreckliches zustieß, sondern Opfer einer strukturellen Situation, die zwangsläufig Leben fordert. Eine, um in der Sprache des neuen Todes zu bleiben, permanente Havarie. Der Schiffbruch, der Sturz vom LKW als Normalzustand an der Grenze.
Werfen wir einen Blick auf die geographischen Umstände des ersten Todesfalls. Das in Seenot geratene Boot legte bei Berck-sur-Mer ab, gut 70 Kilometer von Calais entfernt, 110 von Dunkerque. Das geschah nicht zufällig. Dass sich eine Gruppe MigrantInnen in den vorhergegangenen Tagen dort niederließ, zeigt, dass die Gegend um Berck zunehmend relevant wird für Bootspassagen. Es deckt sich mit Aussagen, die wir letzte Woche an der Kanalküste hörten. Ein Forscher, der in den Dünen bei Zuydcoote mit Vermessungen beschäftigt war, sagte, die Boote legten bis südlich von Le Touquet ab. Einer der ersten Orte dort: Berck. Laut einem Mitglied der freiwilligen Seenotrettung von Boulogne kommen sogar Strände bis nach Dieppe in der Normandie in Frage. Das betrifft eine Küstenlinie von knapp 250 Kilometern.
Deutlich ist damit, dass das Verkehrsmittel (Schlauch-) Boot eine Entwicklung nachvollzieht, die sich schon vor gut zehn Jahren, nach der Zerstörung des ersten großen Jungle in der Zone Industrielles des Dunes vor den Toren von Calais zeigte: die Verlagerung des Geschehens an andere Küstenorte, just um dem engmaschigen Netz der Grenzüberwachung um Calais herum zu entgehen. In der Vergangenheit ging es meist um vorübergehende Niederlassungen und kleine Gruppen. Das könnte sich nun dank der ökonomischen Interessen der Schlepper-Netzwerke, die die Bootspassagen organisieren, ändern. Was bleibt, ist die simple Faustregel, dass die Überfahrt je länger, desto gefährlicher ist.
Interessant ist die Frage, wie Standorte wie Ouistreham davon beeinflusst werden. Das Städtchen in der Nähe von Caen, weiter südwestlich in der Normandie gelegen, ist als Fährhafen direkt mit dem englischen Portsmouth verbunden. Seit 2016/17 dient die Umgebung Geflüchteten als Basis zum Sprung über den Kanal – international wenig bemerkt, da es sich vielfach nur um ein paar Dutzend Personen handelt.
Ein Interview mit einem lokalen Unterstützer Ende 2021 in der Tageszeitung Le Parisien bietet einen der seltenen relativ aktuellen Blicke auf die Lage dort. Die Regionalzeitung Ouest-France veröffentlichte Anfang 2021 Ergebnisse einer Umfrage unter den MigrantInnen vor Ort. Dabei wird eine andere Freiwillige zitiert, der zufolge „mehr und mehr der Jungen es mit dem Boot probieren“. Auch in England taucht die Gegend aktuell in den Medien auf – als Alternative, wenn die Repression in Calais zuviel wird.
Die Website inews.co.uk publizierte soeben eine Reportage, der zu Folge durchaus Dynamik in die Bewegung von der Opalküste in Richtung Normandie gekommen ist. Zudem zeichnet sie ein differenzierteres Bild derjenigen, die dorthin kommen. Ursprünglich stammten die vor allem aus dem Sudan. Inzwischen kämen sie auch aus Afghanistan, Albanien, Bangladesh, Senegal und Somalia, heißt es dort.
Bereits heute gehören potentiell tödliche Havarien zum Alltag am Kanal, sobald die Wetterbedingungen Abfahrten zulassen. Wenige Tage vor dem Tod der beiden Sudanesen tauchen in den Dünen von Wimereux, einem Dorf bei Boulogne, zwei Gruppen von insgesamt 13 Personen auf. Es ist eine der ersten Nächte mit guten Witterungsbedingungen nach Wochen schlechten Wetters. Die ersten, darunter ein etwa zweijähriges Mädchen, fielen offenbar recht bald nach dem Ablegen von Bord eines überfüllten Bootes. Die anderen berichten, das Boot sei havariert und 40 bis 50 Menschen seien im Meer gelandet. Beide Gruppen haben es zurück an den Strand geschafft. Jemand von der herbeigerufenen Ambulanz kontaktierte die Seenotrettungs- Koordinationsstelle CROSS Gris-Nez. Nach einer erfolglosen Suche mit mehreren Booten und einem Helikopter findet die Grenzpolizei am frühen Morgen 32 Personen in den Dünen.
Wie drastisch sich die Situation entwickelt hat, zeigt die Statistik der nahen Filiale der freiwilligen Seenotrettung SNSM in Boulogne-sur-Mer. 2020 retteten sie in 16 Einsätzen 49 Geflüchtete, 2021 waren es bei 53 Einsätzen 596.
Drastisch zugespitzt hat sich auch die Lage an Land: In dreieinhalb Monaten starben vier Migranten beim Versuch an Bord eines LKW zu gelangen rund um den Rasthof Transmarck. Auf dem riesigen Gelände östlich von Calais lauern die Bewohner der umliegenden Camps auf eine der wenigen Gelegenheiten – und das längst nicht nur im Schatten der Dunkelheit. Wer sich der Stadt von dieser Seite nähert, sieht bei Dämmerung leuchtende Warnschilder über der Autobahn: ein Aufruf die Geschwindigkeit zu drosseln, weil Personen oder Hindernisse auf der Fahrbahn sein können.