Nachdem sich die Anzahl der Bootspassagen des Ärmelkanals im vergangenen Jahr mehr als verdreifacht hatte und auch während der risikoreichen Herbstmonate hoch gewesen waren, zeigt sich nun: Auch im Januar haben sehr viel mehr Menschen diese maritime Route frequentiert als vor einem Jahr. Registrierten die britischen Behörden im Januar vergangenen Jahres 224 Passagier_innen, waren es laut BBC in diesem Januar 1341 Menschen, also fast sechs Mal so viele. Die angekündigte Militarisierung, mit der die britische Regierung dem Phänomen neuerdings begegnen will (siehe hier), scheint noch nicht begonnen zu haben. Währenddessen unternimmt die französische EU-Ratspräsidentschaft den Versuch einer Europäisierung.
Vermutlich passierten am 4. Januar die ersten Channel migrants dieses Jahres den Ärmelkanal, es waren 66 Personen in zwei Booten. In Nächten mit günstigem Wetter stieg die Zahl der Passagier_innen rasch auf mehr als 100 Personen, so am 13. Januar (elf Boote, 271 Personen), 14. Januar (vier Boote, 118 Personen), 15. Januar (sieben Boote, 197 Personen), 18. Januar (sechs Boote, 168 Personen) und 25. Januar (sieben Boote, 183 Personen). Die Boote, bei denen es sich häufig um minderwertige Fabrikate wie das oben abgebildete handelt, waren im Durchschnitt mit etwa 30 Personen überfüllt.
Die Schattenseite dieser erfolgreichen Passagen waren ein Todesfall am 14. Januar (siehe hier) und zahlreiche Rettungseinsätze auf der französischen Seite des Kanals. In der Nacht vom 9./10. Januar mussten die Passagiere von vier Booten nach Motorschäden und Havarien gerettet werden, darunter mehrere Kinder. Weitere Rettungsoperationen begleiteten die verkehrsreichen Nächte zum 13., 14., 15., 24. und 26. Januar und erstreckten sich über das Küstengebiet von Zuydcoote nahe der belgischen Grenze im Osten über Dunkerque, Calais und Boulogne-sur-Mer bis Berck-sur-Mer im Westen.
Nach einer im Januar veröffentlichten Zählung der französoischen Einwanderungsbehörde OFII mussten im Jahr 2021 insgesamt 1002 Migrant_innen auf See gerettet werden, dreimal mehr als ein Jahr zuvor. Dies hatte die französischen Rettungsdienste phasenweise an die Grenzen ihrer Kapazität gebracht. Es ist voraussehbar, dass sich diese Situation wiederholen und verschärfen wird.
Die innenpolitisch unter massivem Druck stehende britische Regierung reagierte auf die hohe Zahl der Bootspassagen unter anderem mit der Idee, die Zahlen der täglichen Ankünfte nicht mehr zu veröffentlichen und, so der BBC-Journalist Simon Jones, in Zukunft möglicherweise nur viermal im Jahr eine Statistik vorzulegen.
Ebenfalls im Januar gaben die britischen Behörden bekannt, dass die seit dem vergangenen Spätsommer eingeübten Pushbacks in einem kleinen Gebiet des Ärmelkanals jederzeit durchgeführt werden könnten. Geschehen ist dies bislang jedoch nicht, weil – so das Innenministerium Anfang Februar – „noch kein Schiff als geeignet eingestuft wurde, um nach den geltenden strengen Richtlinien umgedreht zu werden“. Unterdessen scheiterte der Versuch der Gewerkschaft PCS und der Hilfsorganisation Care4Calais, mögliche Pushbacks auf dem Weg einer einstweiligen Verfügung durch den High Court zu blockieren.
Auch die folgenreichste Veränderung des britischen Grenzreimes scheint bislang nicht umgesetzt worden zu sein. Im Januar hatte die konservative Regierung angekündigt, dem Militär die Federführung aller Operationen zur Bekämpfung der Migration im britischen Teil des Ärmelkanals zu übertragen und dort u.a. Schiffe der Royal Navy einzusetzen. Was genau diese sogenannte „Operation Isotrope“ umfassen und wann sie starten sollte, wurde eher vage beschrieben, allerdings war Ende Januar als Beginn genannt worden. Soweit ersichtlich, ist dies jedoch nicht geschehen.
Diese hektische Betriebsamkeit dokumentiert einmal mehr das Scheitern der britischen Regierung bei ihrem Versuch, die wiederholt angekündigte Schließung der Kanalroute mit repressiven Mitteln durchzusetzen. Den mehr als 28.000 erfolgreichen Bootspassagen des vergangenen Jahres stehen nach amtlichen Angaben lediglich 10 Abschiebungen gegenüber. Aus konservativer Sicht empörend und für die Betroffenen ein Segen, zeigt diese Zahl eine unbeabsichtigte Folge des Brexit, denn bekanntlich sind mit dem Ende der Brexit-Übergangsphase Anfang 2021 die zuvor durch die Dublin-Verordnung gegebenen Rechtsgrundlagen für Abschiebungen in die EU entfallen. Nach wie vor ist es der britischen Regierung nicht gelungen, diese Lücke im Grenzregime zu füllen. Im Januar kündigte der französische Präsident Emanuel Macron jedoch eine eigene politische Initiative hierzu an. Im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft soll nun ein entsprechendes Abkommen der EU mit Großbritannien ausgehandelt werden, das sowohl Regelungen über legale Einreiserouten, als auch über Abschiebungen in die EU enthalten soll. Neben der britischen Politik einer Militarisierung des Grenzregimes zeichnet sich damit eine französische Politik seiner Europäisierung ab.