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Utopia56: 10 Vorschläge für eine humanere Aufnahme

Im politischen Kontext der Präsidentschaftswahlen in Frankreich, verfasste die Organisation Utopia56 am 6. April 2022 einen Gegenentwurf zur französischen Migrations- und Grenzpolitik. Die zehn Punkte Agenda mit Vorschlägen für ein humaneres französisches Aufnahmesystem, beruht auf Erfahrungen, die Utopia56 u.a. in Calais und Grande-Synthe machen konnte und ist im umfassenden Austausch mit Freiwilligen und Mitgliedern der Organisation entstanden. Im Folgenden dokumentieren wir die Erklärung in eigener Übersetzung: (https://utopia56.org/nos-10-propositions-pour-un-accueil-digne-solidaire-et-inconditionnel/)

10 Vorschläge für eine würdige, solidarische und bedingungslose Aufnahme

Inmitten der Wahlperiode, die sich an der Dämonisierung von Migrant_innen ausrichtet, haben wir 10 Vorschläge, welche an politische Entscheidungsträger gerichtet sind, formuliert. Sie sind das Ergebnis einer umfassenden Befragung unserer Mitglieder und Freiwilligen. 

Diese Vorschläge haben zum Ziel, unser Aufnahmesystem in Frankreich und Europa zu überdenken, um die systematische Gewalt gegen Menschen im Exil zu beenden und endlich eine würdige, solidarische Aufnahme und eine freie und sichere Bewegung für alle anzustreben.

1. Vorschlag: Einrichtung von bedingungslosen Erstaufnahmeeinrichtungen, die den realen Bedürfnissen entsprechen, um die Obdachlosigkeit zu beenden. 

Während es diese Maßnahme schon in den meisten europäischen Ländern gibt, entscheidet sich Frankreich für die Nichtaufnahme, in der Hoffnung, die Menschen davon abzuschrecken, sich in Frankreich niederzulassen. Das Ergebnis ist ein systematischer Aufenthalt auf der Straße. Jedes Departement muss in der Lage sein, allen Menschen, die in Frankreich ankommen, eine wohlwollende Aufnahme und Betreuung zu bieten und ihnen so die mit dem Umherirren verbundene Angst zu nehmen. 

2. Vorschlag: Ein Ende der institutionellen und administrativen Gewalt und Diskriminierung von Migrant_innen

Ob auf ihrem Fluchtweg, an unseren Grenzen oder in unseren Städten, Migrant_innen sind physischer und moralischer Gewalt ausgesetzt, die unsere Teams tagtäglich miterleben. Es ist zwingend notwendig, dieser angeordneten und systemischen Gewalt ein Ende zu setzen.

3. Vorschlag: Reformation der Wohnungspolitik, um eine bedingungslose und dauerhafte Unterbringung sicherzustellen. Eine Erhöhung der Anzahl von Notunterkünften, um Obdachlosigkeit zu beenden. 

Nach Angaben der Stiftung „Abbé Pierre“, haben über 300.000 Menschen keinen festen Wohnsitz. Frankreich muss sich dazu verpflichten, jede Person, die sich auf seinem Gebiet aufhält, unabhängig von ihrer Nationalität oder ihrem Status menschenwürdig unterzubringen. 

4. Vorschlag: Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik. Wandel der bisherigen Dialektik von „Festigkeit und Menschlichkeit“ zu „Aufnahme und Solidarität

Die Migrationspolitik, die Frankreich in den letzten zwanzig Jahren umsetzte, ist gescheitert. Es wird immer notwendiger, eine Politik der würdigen Aufnahme und Solidarität gegenüber allen Migranten_innen, ungeachtet ihrer Herkunft, anzustreben. Die Freiheit, sich zu bewegen und niederzulassen, muss zum politischen Ideal erhoben werden, und der Mensch muss wieder in den Mittelpunkt dieses Ideals gestellt werden.

5. Vorschlag: Beendigung der Politik der Externalisierung der Grenzen, einer gewaltgenerierenden Praktik, die darauf abzielt, die Ankunft von Migrant_innen zu blockieren, obwohl sie sich in einer prekären Situation befinden.

Die Europäische Union tendiert dazu, die Verantwortung für den Schutz ihrer Grenzen auf Nachbarländer abzuwälzen, insbesondere durch Finanzabkommen (Türkei, Libyen, Marokko etc.). Das Vereinigte Königreich wendet die gleiche Logik mit Frankreich an, um die Ankunft von Menschen im Exil zu blockieren (Abkommen von Le Touquet). Diese Praktiken, die zu Gewalt führen, müssen beendet werden, damit alle Menschen, die in Frankreich und Europa einen Asylantrag stellen möchten, in Würde aufgenommen und behandelt werden können.

6. Vorschlag: Beendigung der Politik des Abschiebens und Einsperrens von Migrant_innen. 

Die administrativen Abschiebezentren und die Verpflichtungen, das französische Gebiet zu verlassen, tragen zur Banalisierung der administrativen Inhaftierung und Bestrafung des irregulären Aufenthalts in Frankreich bei. Während derzeit vier weitere Abschiebezentren gebaut werden, ist es dringend erforderlich, sich für die Beendigung dieser systematischen Methoden der Inhaftierung von Personen mit sogenanntem irregulärem Status einzusetzen, unabhängig davon, ob sie volljährig sind oder nicht (2021 wurden 2.166 Kinder in Abschiebezentren festgehalten).

7. Vorschlag: Die Möglichkeit für alle Personen einen Asylantrag in einem europäischen Land ihrer Wahl zu stellen. 

Heute liegt die Verantwortung für die Bearbeitung des Asylantrags bei dem Land, über das die Person zuerst nach Europa einreiste, was zur Folge hat, dass die Menschen umherirren, ohne das ihre Wahl oder ihre familiären und emotionalen Bindungen berücksichtigt werden. 

Frankreich muss Artikel 17 der Dublin-Verordnung systematisch anwenden: „Es ist wichtig, dass jeder Mitgliedstaat von den Zuständigkeitskriterien abweichen kann, insbesondere aus humanitären Gründen und aus Mitgefühl, um die Annäherung von Familienmitgliedern, Verwandten oder anderen Angehörigen zu ermöglichen und einen in seinem Hoheitsgebiet oder im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn ihm diese Prüfung nach den in dieser Verordnung festgelegten verbindlichen Kriterien nicht obliegt.“ 

8. Vorschlag: Recht auf bedingungslose Arbeit für alle

Da viele Sektoren, insbesondere der öffentliche Sektor, Arbeitnehmer_ innen „ohne Papiere“  ausbeuten, um ihre Betriebskosten zu senken, aber auch um einem Arbeitskräftemangel zu begegnen, ist es unerlässlich, diesen Praktiken ein Ende zu setzen und jedem und jeder die Freiheit zu geben, legal zu arbeiten.

9. Vorschlag: Beendigung der Zuständigkeit des Innenministeriums für die Aufnahme von Migrant_innenund Übertragung der Verantwortung an das Ministerium für Solidarität.

Während das Innenministerium seit 2010 alle Fragen der Aufnahme zentralisiert und kontrolliert, ist es notwendig, diesen Fragen ein eigenes Ministerium zu widmen oder einen Teil des Solidaritätsministeriums dafür einzusetzen und die zuständigen Dienststellen dort anzusiedeln und ihnen gleichzeitig Mittel zur Verfügung zu stellen um ihre Aufgaben ohne Verpflichtung zu zahlenmäßigen Ergebnissen und unabhängig von jeglichem politischen Druck zu erfüllen. Bei der Aufnahme von Menschen im Exil geht es nicht um Sicherheit oder Zahlen, sondern um Solidarität.

10. Vorschlag: Uneingeschränkte Anwendung der Minderjährigkeitsvermutung für unbegleitete Minderjährige bis zur Entscheidung des Jugendrichters.

Die Minderjährigkeitsvermutung soll es ermöglichen, dass ein/e Jugendliche/r, der/die sich als solche/r ausgibt, während des gesamten Verfahrens vor dem Jugendrichter oder dem Berufungsgericht als minderjährig gilt, und zwar solange, wie keine gegenteilige Entscheidung getroffen wird. So können sie Zugang zu Unterkunft, medizinischer, rechtlicher und administrativer Betreuung sowie Bildung erhalten.