Das verschobene Projekt der „Anti-Schleuser-Kameras“ zeigt die banalen Grenzen der Sekuritisierung
Wer den Ausbau der Infrastrukturen zur Bekämpfung der Bootspassagen über eine längere Zeit beobachtet, wird feststellen, dass sie nicht frei von Friktionen war. Zwar ist die Sekuritisierung der neuralgischen Küstenabschnitte um Dunkerque, Calais und Boulogne-sur-Mer nicht zu übersehen: Neue Fahrzeuge und neues Equipment der personell verstärkten Polizei- und Gendarmeriebehörden sind im Einsatz, nachts kreisen Drohnen über den Dünen und ein Frontex-Flugzeug überfliegt von Lille aus die Küstenlinie. Ein Checkpoint an der E 40, die von Deutschland über Belgien nach Dunkerque und Calais führt, soll knapp hinter der französische Grenze das Heranschaffen von Schlauchbooten verhindern. Und als sich im vergangenen Herbst ein Vigipirate-Fahrzeug bei einem pubertären Fahrmanöver auf dem Gelände des Camps Old Lidl im Morast festfuhr und mithilfe der Campbewohner_innen im Wortsinne aus dem Dreck gezogen werden musste, wurde deutlich, dass ein ursprünglich zum Antiterrorkampf geschaffenes Polizeiprogramm inzwischen Teil der Migrationskontrolle geworden ist.
Aber die scheinbar vehement vorangetriebene Sekuritisierung verläuft in Wirklichkeit weniger kohärent und schnell, als es scheint: Der genannte Checkpoint an der E 40 war, wenn wir ihn passierten, oft unbesetzt oder die Beamt_innen vermieden es, bei starkem Regen draußen arbeiten zu müssen. Und das viral verbreitete Video des Vigipirate-Wagens im Dreck von Old Lidl degradierte die Spezialeinheit zur Lachnummer und löste ein behördeninternes Untersuchungsverfahren aus. Sicher sind dies Einzelbeobachtungen. Doch wirft ein aktuelles Projekt namens Terminus [1] ein Schlaglicht auf banale Hemmnisse, die ein im Herbst 2021 mit großem Elan begonnenes Vorhaben stark verzögern und möglicherweise scheitern lassen: Gegenstand des Projekts ist die Schaffung einer Infrastuktur zur großflächigen Videoüberwachung mit Kennzeichenerkennung im Hinterland der Küste.
Um die Genese der kontinentaleuropäisch-britischen Grenz- und Transitregion zu verstehen, ist es aus unserer Sicht unumgänglich, auch Beispiele für das Lückenhafte, Inkohärente, Verzögerte, Vorgetäuschte, Unterlaufene oder Scheiternde zu untersuchen. Denn Grenze ist nicht gleich Grenzregime, sondern eine von einer Vielzahl von Akteur_innen in einem ständigen Kräftespiel immer wieder neu produzierte und ausgehandelte Situation.
Das Projekt Terminus reagiert auf die seit 2018 kontinuierlich zunehmende Passagen des Ärmelkanals in Schlauchbooten, die vielfach von professionellen Schmugglern angeboten werden und sich teils auf den Küstenabschnitt nördlich und südlich von Boulogne-sur-Mer verlagert haben. Da Frankreich die Boote nicht stoppt, sobald sie in See gestochen sind und sich nicht in Seenot befinden, sind die weitläufigen Strand- und Dünengebiete zur primären Zone geworden, in der verschiedene Polizei- und Gendarmeriebehörden die Abfahrten zu verhindern versuchen, und zwar mitunter durchaus gewaltsam. Das Terminus-Projekt zielt auf die Schaffung einer zweiten Zone, die die Anfahrtswege für Boote und Passagier_innen im Hinterland der Küste umfasst, also vor allem die küstenbegleitenden Straßen und die zahllosen zur Küste hinführenden Sackgassen.
Als Projekt des Innenministeriums wird Terminus durch die Präfektur des Departements Pas-de-Calais bzw. die zugehörigen lokalen Unterpräfekturen koordiniert, und weil es der Zustimmung der betroffenen Kommunen bedarf, war es im Herbst und Winter Gegenstand der Gemeinderatssitzungen der betroffenen Küstengemeinden. Vor diesem Hintergrund berichtete u.a. die Zeitung La voix du nord wiederholt über den Fortgang und schließlich über den vorläufigen Stopp des Projekts.
Am 22. Oktober 2021 berichtete das Blatt zunächst, dass das Projekt den gewählten Vertreter_innen der Regionen Boulonnais (Gebiet um Boulogne-sur-Mer), Montreuillois (das Gebiet südlich davon) und Calaisis (das Gebiet um Calais) vorgestellt wurde. „Mitte 2022 werden rund fünfzig Videoüberwachungskameras entlang der gesamten Küste in Strand- und Dünennähe installiert, um Schmuggler aufzuspüren“. Eine Ausweitung nach Osten „auf das Gebiet von Dunkerque“ wurde thematisiert, war aber offenbar nicht Gegenstand der zur Rede stehenden Projektphase. Die Finanzierung des Projekts sollte durch Großbritannien geschehen, und zwar, wie La voix du nord am 27. Januar 2022 konkretisierte, als „Teil der 62,7 Millionen, die das Vereinigte Königreich im vergangenen Jahr“ für die Migrationskontrolle an der nordfranzösischen Küste bereitgestellt habe. Diese im Juli 2021 auf Ministerebene getroffene Vereinbarung beinhaltet neben der Intensivierung und räumlichen Ausweitung der Überwachung auch die Perspektive einer Smart border-Technologie, um mutmaßliche Bootspassagen bereits im Vorfeld zu detektieren (siehe hier).
Diese Finanzierung aus britischen Mitteln war für die Kommunen ein wichtiger Grund für ihre Zustimmung, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass britische Behörden keinen Zugang zum Bildmaterial hätten (das notwendigerweise den öffentlichen Raum der jeweiligen Kommune abbildet). Darüber hinaus wurde den Gemeinden in Aussicht gestellt worden, die Kameras zu einem späteren Zeitpunkt für eigene Zwecke nutzen zu können. Das Projekt Terminus erschien also als ein willkommenes Vehikel, um eine aus dem Kommunalhaushalt nicht realisierte oder realisierbare Infrastruktur implementieren zu können. Attraktiv war das Projekt für die Gemeinden auch, weil diese die Bootspassagen als Belastung des Tourismus oder Schädigung von Naturschutzgebieten wahrnahmen. Alles in allem kam ihnen entgegen, dass die mit der Projektplanung beauftragte Firma Snef – ein großes französisches Technologieunternehmen – die genauen Standorte der Kameras im Dialog mit den Gemeinden festlegte. Teils konkurrierten die Kommunen um die Anzahl der ihnen zugeteilten Kameras und in einem Fall gelang es einer ursprünglich nicht beteiligten Gemeinde (Condette), nachträglich in das Projekt einbezogen zu werden.
Über die technische Seite der durchgängig so bezeichneten „Anti-Schleuser-Kameras“ wurde bis Februar 2022 berichtet, dass sie „an der Küste und in der Nähe von Hauptverkehrsstraßen“ platziert und die Daten „in Echtzeit an die Polizei- oder Gendarmeriedienste“ weiterleiten sollten; die zentrale Auswertung sollte offenbar in Arras erfolgen. Die Platzierung an öffentlichen Verkehrswegen und die Implemementierung einer Kennzeichenüberwachung [2] lassen auf ein (teil)automatisiertes System zur Detektion verdächtiger Fahrzeugbewegungen schließen.
Bis Anfang Februar stimmten alle beteiligten Kommunen dem Projekt Terminus zu und eine Realisierung bis zum Sommer schien bevorzustehen. Der Stopp des Vorhabens kam, folgt man der lokalen Berichterstattung, unerwartet: Am 6. April 2022 teilte die Präfektur mit, dass die technischen Planungen zwar abgeschlossen, das Projekt in sämtlichen Gemeinden des Boulonnais und des Montreuillois aber verschoben werde. Lediglich in der Calaisis solle „ein Experiment“ durchgeführt werden. Lokale Abgeordnete gehen laut La voix du nord von einer Verschiebung „auf das nächste Jahr“ aus – und auch dies nur unter der Voraussetzung, dass das „in Calaisis durchgeführte Experiment Früchte trägt“. Im Umkehrschluss wäre also auch ein Abbruch des Projekts möglich.
Grund für die Verschiebung sind offenbar Finanzierungsprobleme im Kontext des im vergangenen Jahr zerrütteten bilateralen Verhältnisses zwischen Frankreich und Großbritannien (siehe hier und hier). Explizit verwies die Präfektur auf „die nächsten Finanzverhandlungen des Sandhurst-Vertrags“. Dieser am 18. Januar 2018 geschlossene bilaterale Vertrag aktualisiert die seit den 1980er-Jahren in mehreren Verträgen geregelte Zusammenarbeit beider Staaten bei der Grenzüberwachung unter den Voraussetzungen des Brexit und stellt u.a. die Grundlage für die bereits erwähnte Finanzierung französischer Sicherheitsmaßnahmen in Höhe von 62,7 Millionen Euro dar, dem Budget also, aus dem Frankreich das Projekt Terminus ursprünglich hatte finanziert wollen.
In der Geschichte der bilateralen Vereinbarungen über Grenze und Migrationskontrolle war Calais stets sowohl Kulminationspunkt als auch Experimentierfeld. Calais spielte jedoch auch die oft übersehene Rolle eines Profiteurs: Unter Verweis auf die als unerträgliche Belastung kommunizierte Migration ist es der Stadt mit einigem Erfolg gelungen, Ressourcen für Stadterneuerung und Tourismusförderung zu mobilisieren. Ende Oktober 2021 nahm außerdem der mit einem Finanzvolumen von 863 Millionen Euro erweiterte Fährhafen den Betrieb auf, was impliziert, dass die stark vergrößerte Anlage ebenfalls mit einem Videoüberwachungssystem sowie baulichen Sperren sekuritisiert wird. Während die frühere Hafenanlage durch fast 160 Kameras gesichert wurde, spricht die Presse für die neue Anlage von 200 und weist zudem auf eine Einbeziehung der zum Hafen führenden Verkehrswege hin. Auch die Implementierung solcher Sicherheitstechnologien an den Fährhäfen ist seit Langem ein wiederkehrender Punkt der bilaterlalen Vereinbarungen zwischen Frankreich und Großbritannien und auch sie werden in der Regel mit britischem Geld finanziert. Vor diesem Hintergrund ist denkbar, dass die Reduzierung des Projekts Terminus auf ein Experiment in Calais in Wirklichkeit eine Überdehnung der bereitgestellten Ressourcen oder Unstimmigkeiten zwischen beiden Staaten über die Mittelverwendung bemäntelt.
Bereits heute hat sich die Kameraüberwachung weit in den Stadtraum von Calais ausgedehnt. Flächendeckend findet sie nicht nur im Umfeld des Hafens und des Kanaltunnels sowie an den dorthin führenden Verkehrswegen statt, sondern ebenso an der mit großem Aufwand neu gestalteten Strandpromenade, rund um die Infrastrukturen des Lastkraftverkehrs sowie und in Gewerbegebieten und Stadtteilen, in denen sich über längere Zeit hinweg Camps gebildet haben. Auch ohne das Porjekt Terminus ist also bereits eine großflächige Videoüberwachung vorhanden, die durch das Experiment Terminus nicht neu geschaffen, sondern allenfalls ergänzent, modernisiert und kofinanziert werden dürfte. Calais hat im Gegensatz zu den übrigen Küstenregionen also offenbar ein weiteres Mal vom Elend der Exilierten profitiert.
Anmerkungen:
[1] Der Name bezieht sich möglicherweise auf die anrike römische Gottheit Terminus. Dieser galt als Gott der Grenzsteine, deren religiöse Überhöhung die Eigentümer_innen von der Manipulation ihrer Grundstücksgrenzen abhalten sollte. Grenzregime und Migrationskontrolle gehörten nicht zu seinen Aufgaben.
[2] Laut La voix du nord vom 6. April 2022.