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Channel crossings & UK

Fortschaffung nach Ruanda

Werbegrafik der britischen Regierung für Offshore processings. (Quelle: UK Home Office / Twitter)

Die britische Innenministerin Priti Patel und der ruandische Außenminister Vincent Biruta unterzeichneten am 13. April 2022 in Kigali ein Memorandum über eine künftige Asylpartnerschaft. Sollte diese realisiert werden, so könnte Großbritannien Migrant_innen, die ‚illegal‘ über den Ärmelkanal gelangt sind, nach einem Schnellverfahren nach Ruanda umsiedeln, wo sie dann ein Asylverfahren nach ruandischem Recht durchlaufen und bei einem povsitiven Ausgang in dem afrikanischen Staat verbleiben würden. Jemand, der beispielsweise aus Afghanistan, dem Sudan, Eritrea oder dem Iran über Dunkerque oder Calais nach Großbritannien gelangt ist, würde sich also in Ruanda wiederfinden und hätte – so die Vorstellung der Regierung Johnson – keine legale Möglichkeit mehr, es noch einmal in Großbritannien zu versuchen. Im Zentrum der Asylpartnerschaft steht also eine Zwangsumsiedlung der betroffenen Menschen in ein Land, aus dem sie nicht stammen, das sie auf ihrer Migrationsreise nicht passiert haben und in das sie nicht wollten. Sollte das Vorhaben Wirklichkeit werden, wäre dies nicht nur eine Zäsur in der Geschichte der Kanalroute, sondern ein gefährlicher Präzedenzfall in einem instabiler werdenden Europa. Zeitgleich mit dem britisch-ruandischen Memorandum übertrug Boris Johnson das operative Kommando über die UK Border Force im Ärmelkanal der Royal Navy und vollzog damit eine Militarisierung des Grenzregimes.

Facetten der Vorgeschichte

Sogenannte Offshore-Asylverfahren – also die Verbringung von Asylbewerber_innen in einen Drittstaat oder an einen entlegenen Ort wie eine Insel – wurden von der britischen Innenministerin seit 2020 in die politische Debatte eingebracht, und zwar im selben Atemzug wie Pushbacks im Ärmelkanal oder die Schaffung einer schwimmenden Barriere zur Abwehr der Channel crossings (siehe hier). Im März 2021 wurden Offshore-Verfahren im New Plan for Immigration, einer Art Masterplan des britischen Innenministeriums (siehe hier), und schließlich im Entwurf eines neuen Einwanderungsgesetztes (Nationality and Borders Bill) verankert, das allerdings noch nicht endgültig verabschiedet ist. Das geplante Gesetz sieht faktisch den Ausschluss von Geflüchteten, die über einen EU-Staat nach Großbritannien gereist sind, aus dem regulären Asylverfahren vor, was die gesetzlichen Grundlagen für die Verbringung in einen Drittstaat schaffen soll. Ein im Februar 2022 vom konservativen Thinktank Policy Exchange vorgelegtes Konzept skizzierte schließlich die Idee einer Zwangsumsiedlung: Nach einer Entscheidung im Schnellverfahren würden Geflüchtete auch dann, wenn ihr Asylverfahren erfolgversprechend sei, „in einen anderen sicheren Staat als das Vereinigte Königreich umgesiedelt werden. Keine Person, die mit einem kleinen Boot aus einem sicheren Land in das Vereinigte Königreich einreist (oder dies versucht), würde sich im Vereinigten Königreich niederlassen dürfen, selbst wenn es sich um einen echten Flüchtling handelt.“ (siehe hier)

Was beinhaltet das britisch-ruandische Memorandum?

Einen Tag nach seiner Unterzeichnung veröffentlichte die britische Regierung am heutigen 14. April 2022 den Wortlaut des Memorandum of Understanding between the government of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and the government of the Republic of Rwanda for the provision of an asylum partnership arrangement, wie der vollständige Titel der Vereinbarung lautet.

Der Text bettet das Vorhaben in einen rechtspolitischen Rahmen ein, der die unfreiwillige Umsiedlung als eine rechtmäßige Option des internationalen Flüchtlingsrechts erscheinen lässt: „Mit dieser Vereinbarung soll ein Mechanismus für die Umsiedlung von Asylbewerbern, deren Anträge vom Vereinigten Königreich nicht geprüft werden, nach Ruanda geschaffen werden, das ihre Anträge bearbeiten und die Personen nach der Entscheidung über ihren Antrag im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht Ruandas, der Flüchtlingskonvention und den geltenden internationalen Normen, einschließlich der internationalen Menschenrechtsnormen und der im Rahmen dieser Vereinbarung gegebenen Zusicherungen, ansiedeln oder abschieben wird.“ (Abs. 2.1)

Die für eine Laufzeit von fünf Jahren mit Verlängerungsoption (Abs. 23.1) geschlossene Vereinbarung beschreibt ein Verfahren, das im Moment des Eintreffens in Großbritannien einsetzt und die Verbringung nach Afrika als alternativlosen Mechanismus beschreibt: „Um den Prozess der Umsiedlung nach Ruanda zu beschleunigen, ist das Vereinigte Königreich für die erste Überprüfung der Asylbewerber zuständig, bevor die Umsiedlung nach Ruanda […] stattfindet. Dieses Verfahren wird unverzüglich eingeleitet, nachdem die potenziell umgesiedelte Person im Vereinigten Königreich eingetroffen ist und das Vereinigte Königreich davon Kenntnis erlangt hat.“ (Abs. 5.1) Im Fall einer Bootspassage des Ärmelkanals wäre dies beispielsweise der Fall, sobald eine Person von einem Schiff der Border Force an Bord genommen wurde.

Nach der Übermittlung der für das weitere Verfahren in Ruanda erforderlichen Daten (Abs. 5.2ff) organisiert Großbritannien dann in eigener Verantwortung den Flug der „Umgesiedelten Person“ (Relocated Person) nach Ruanda (Abs. 6). Nach der Ankunft und einer Überprüfung der Daten stellt Ruanda „jeder Umgesiedelten Person eine Unterkunft zur Verfügung, die geeignet ist, die Gesundheit, die Sicherheit und das Wohlbefinden der umgesiedelten Person zu gewährleisten, sowie eine Unterstützung, die geeignet ist, die Gesundheit, die Sicherheit und das Wohlbefinden der Umgesiedelten Person zu gewährleisten. Die Umgesiedelte Person kann die ihr zur Verfügung gestellte Unterkunft jederzeit im Einklang mit den ruandischen Gesetzen und Vorschriften, die für alle in Ruanda lebenden Personen gelten, betreten und verlassen.“ (Abs. 8)

Aus dem Zugang zum britischen Asylrecht kategorisch ausgeschlossen und außer Landes geflogen, sichert Ruanda die Einhaltung internationaler Schutzrechte, ein rechtstaatliches Asylverfahren sowie Zugang zu Dolmetschern und Rechtsmitteln zu (Abs. 9.1.1. bis 9.1.2). Endet ein Asylverfahren mit der Anerkennung, „wird Ruanda den Flüchtlingsstatus zuerkennen“ und die Person im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention behandeln (Abs. 10.1). Weitere Regelungen stellen auch denjenigen, deren Asylverfahren scheitert und die aus humanitären oder praktischen Gründen nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden können, eine Bleibeperspektive in Ruanda in Aussicht (Abs. 10.2 bis 10.5).

Die Möglichkeit einer legalen Rückkehr nach Großbritannien, aufgrund der Entscheidung eines britischen Gerichts, wird hingegen nur vage erwähnt, allerdings enthält das Memorandum eine konkrete Vorkehrung für diesen Fall: „Ruanda stellt dem Vereinigten Königreich auf dessen Ersuchen unverzüglich alle in seinem Besitz befindlichen Informationen zur Verfügung, um eine Klage vor einem Gericht des Vereinigten Königreichs im Zusammenhang mit der Überstellung oder der geplanten Überstellung einer oder mehrerer Personen im Rahmen dieses Übereinkommens abzuwehren.“ (Ab. 12.1)

Weitere Regelungen betreffen die Einsetzung von Kontrollgremien, Verfahrensfragen, die Überwachung der Maßnahmen durch ein Monitoring Comittee und eine unpräzise Absichtserklärung Großbritanniens, im Gegenzug „einen Teil der vulnerabelsten Flüchtlinge Ruandas im Vereinigten Königreich neu an[zu]siedel[n]“ (Abs. 16).

In der Logik der britischen Regierung sind die relative Stabilität Ruandas, die Rechtstaatlichkeit des ruandischen Asylverfahrens, die Verpflichtung zur Einhaltung internationaler Normen und die Schaffung entsprechender Kontrollmechanismen wesentliche Voraussetzungen dafür, dass die Umsiedlung vor britischen Gerichten überhaupt eine Chance hat zu bestehen. Die Regierung rechnet erklärtermaßen mit massiven juristischen Interventionen menschenrechtlicher Akteur_innen. Ob diese erfolgreich sein werden, werden die nächsten Monate zeigen. Jenseits dieses juristischen Kampfes reagierten zivilgesellschaftliche und solidarische Initiativen schockiert und entrüstet.

Radikalisierte Grenzpolitik in einem instabilen Europa

Wie die BBC nach der Unterzeichnung der britisch-ruandischen Vereinbarung analysierte, haben bislang nur Australien, Israel und Dänemark eine Politik der Umsiedlung unerwüschter Migrant_innen in Übersee-Gebiete entwickelt. Von diesen Staaten schloss Israel offenbar konkrete Vereinbarungen mit Ruanda und Uganda und führte eine Anzahl von Umsiedlungen durch, allerdings wurde der Übergang von freiwilliger zu erzwungener Umsiedlung gerichtlich gestoppt. Dänemark wiederum kündigte die Einrichtung eines Offshore-Asylzentrums in Ruanda an, ohne es bislang zu realisieren. Allerdings scheint die britisch-ruandische Vereinbarung die dänische Regierung veranlasst zu haben, ihre Absicht noch einmal zu bekräftigen.

Offenbar, so berichtet BBC weiter, plant die britische Regierung zunächst eine Art Pilotprojekt, das sich „auf alleinstehende Männer konzentrieren [soll], die mit Booten oder Lastwagen ankommen.“ Perspektivisch sprach Innenministerin Patel davon, „dass die ‚große Mehrheit‘ der illegal ins Vereinigte Königreich eingereisten Personen für eine Umsiedlung nach Ruanda in Betracht gezogen werden würde“, und Boris Johnson nannte die Zahl der Menschen, die umgesiedelt werden können, sogar „unbegrenzt“. Offenbar kündigte er auch eine rückwirkende Anwendung der geplanten Regelungen ab dem 1. Januar an.

Um auf die zur Umsiedlung nach Ruanda vorgesehenen Menschen zugreifen zu können, kündigte Johnson laut BBC außerdem an, dass sie nicht mehr dezentral in Hotels, sondern in „detention centres“, also Haftzentren, untergebracht werden sollen. Französische Medien zitieren Johnson unter Berufung auf die Agentur AFP mit der Ankündigung, man werde sich hierbei am griechischen Vorbild orientieren und ein erstes Zentrum in Kürze in Betrieb nehmen.

Sollte die britisch-ruandische Vereinbarung tatsächlich umgesetzt werden, so wäre es das erste Mal, dass ein heutiger europäischer Staat Migrant_innen systematisch in einen anderen Teil der Welt deportiert. Nach Lage der Dinge ist davon auszugehen, dass die Umsiedlungen gegen den Willen der Betroffenen, in deren Lebensentwurf sie existenziell eingreifen, geschehen werden. In vielen Fällen werden sie daher nur unter Einsatz von Gewalt durchgesetzt werden können. Gleich ob das ruandische Asylverfahren rechtstaatlichen Normen entspricht oder nicht, was ich nicht beurteilen kann, handelt es sich um einen Akt der Entsorgung einer als unerwünscht verstandenen Bevölkerung in einen ehemals kolonialen Raum.

Zeitgleich mit der Unterzeichnung des Memorandums traf die britische Regierung eine weitere grundlegende Entscheidung: Der Premierminister übertrug das operative Kommando zur Bekämpfung der Bootspassagen im Ärmelkanal der Navy und band die bis dahin zivile Grenzüberwachung dadurch in eine militärische Struktur ein. Diese Neuorganisation war zu Jahresbeginn unter der Bezeichnung Operation Isotrope angekündigt, aber zunächst nicht umgesetzt worden (siehe hier). Aufgegeben wurde Medienberichten zufolge hingegen der Plan, Schlauchbotte inmitten des Ärmelkanals mit Hilfe von Jetskis zur Umkehr zu zwingen, also Pushbacks auf See (siehe hier und hier) durchzuführen.

Das britisch-ruandische Memorandum ist also Teil eines Maßnahmenbündels, das die Grenz- und Einwanderungspolitik Großbritanniens nach rechts radikalisiert. Ob der innenpolitisch angeschlagene Premierminister hierdurch vom sogenannten Partygate-Skandal abzulenken versucht, wie britische Medien und Politiker_innen mutmaßen, ist zweitrangig. In einem Europa, in dem zu Beginn tiefgreifender sozialer, ökonomischer und politischer Krisen in einigen Tagen eine rassistische und rechtsextreme Politikerin zur Präsidentin der Französischen Republik gewählt werden könnte, ist die Idee einer Fortschaffung der Unerwünschten nach Afrika schlicht fatal. Eine Verschärfung der Krisendynamiken dürfte die Tür für fatale Konzepte dieser Art weiter öffnen.