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Dystopie in Gesetzesform

Das neue britische Staatsangehörigkeits- und Grenzgesetz in einer Werbegrafik des Innenministeriums, 28. April 2022. (Quelle: UK Home Office / Twitter)

Das britische Unterhaus verabschiedete am Abend des 27. April den Nationality and Borders Act 2022. Der im vergangenen Jahr von Innenministerin Priti Patel eingebrachte Gesetzesentwurf zielt im Kern auf die Kriminalisierung der undokumentierten Einreise, die Etablierung eines Schnellverfahrens zum Ausschluss der betroffenen Menschen aus dem britischen Asylverfahren und die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für ihre Umsiedlung in einen Drittstaat. Das neue Gesetz kodifiziert damit eine migrationspolitische Agenda, die zu den restiktivsten Europas gehört und, sollte sie von anderen europäischen Staaten aufgegriffen werden, über Großbritannien hinaus eine Zäsur darstellen könnte. Zugleich bildet das neue Gesetz den Fixpunkt verschiedener umstrittener Maßnahmen der vergangenen Monate: von der versuchten Kriminalisierung von Geflüchteten, die ein Schlauchboot gesteuert haben sollen, über die Neuorganisation des Grenzschutzes unter militärischer Ägide bis hin zum Abschluss einer ersten Vereinbarung mit der ruandischen Regierung über die Umsiedlung von Migrant_innen, die u.a. aus einem EU-Staat eingereist sind. Unter den in Nordfrankreich ausharrenden Exilierten entfaltet die Drohung, in ein 6500 Kilometer entfernt Land gebracht zu werden, eine beklemmende Wirkung.

Das Innenministerium hatte die Grundzüge des Nationality and Borders Act im März 2021 zunächst im New Plan for Immigration dargelegt. Der Plan, der darauf aufbauende Gesetzentwurf und die am 13. April 2022 unterzeichnete Vereinbarung mit Ruanda (siehe hier) stießen nicht nur auf den Widerstand zahlreicher zivilgesellschaftlicher und menschenrechtspolitischer Akteur_innen sowie internationaler Institutionen wie dem UNHCR. Selbst die frühere Innenministerin und Premierministerin Theresa May äußerte sich nach dem Bekanntwerden des Ruanda-Programms kritisch.

Vor diesem Hintergrund durchlief der Gesetzentwurf das parlamentarische Verfahren nicht widerstandslos. Das Oberhaus entschärfte den Entwurf mehrfach in zentralen Punkten und wies ihn an das Unterhaus zurück, dessen konservative Mehrheit die Änderungen wieder aufhob. Am Ende dieses Pingpong-Spiels und kurz vor Schluss der parlamentarischen Sitzungsperiode unterstützte das Oberhaus das Gesetz jedoch in letzter Minute, sodass es mit seiner ursprünglichen restriktiven Stoßrichtung verabschiedet wurde (vgl. BBC). Die parlamentarische Auseinanderetzung wurde also verloren und das Gesetz wird in Kraft treten, sobald die Königin es unterzeichnet hat.

In einer am 28. April veröffentlichten Presseerklärung bezeichnete Patel das Gesetz als „bedeutenden Meilenstein“ hin zu einem „fairen, aber harten Einwanderungssystem“ sowie als „ersten Schritt zur Überarbeitung unseres jahrzehntealten, zerbrochenen Asylsystems“. Das Gesetz werde die illegale Einreise in das Vereinigte Königreich verhindern, das Geschäftsmodell der Schleuser brechen und die Abschiebung derjenigen beschleunigen, die nach Ansicht der Regierung keinen echten Schutz bedürften. Diese Argumentation durchzog die öffentlichen Statements der Regierung während der vergangenen Jahre fast wortgleich. In den kommenden Monaten, so das Ministerium, stehe nun die Umsetzung einiger „Schlüsselreformen“ im Vordergrund. Dazu zählen u.a. „härtere Strafen für Menschenschmuggler mit einer Höchststrafe von lebenslänglicher Haft“, „Anhebung der Höchststrafe für die illegale Einreise in das Vereinigte Königreich oder die Überschreitung der Gültigkeitsdauer eines Visums auf 4 Jahre Freiheitsentzug“, ein „hartes Vorgehen gegen Erwachsene, die sich als Minderjährige ausgeben, durch Einführung wissenschaftlicher Methoden zur Altersbestimmung“ und „neue Maßnahmen zur Beendigung des Karussells der rechtlichen Anfechtungen, mit denen die Abschiebung von Personen vereitelt werden kann, die kein Recht haben, sich im Vereinigten Königreich aufzuhalten“.

Zugleich, so das Ministerium, werde die Asylpartnerschaft mit Ruanda vorangetrieben, „um Menschen umzusiedeln, die auf gefährlichen oder illegalen Wegen ins Vereinigte Königreich kommen, z. B. mit kleinen Booten oder versteckt in Lastwagen, damit ihr Asylantrag in Ruanda bearbeitet wird und sie sich ein neues Leben aufbauen können.“ Das Innenministerium bezeichnet dieses Vorhaben als „weltweit führend“ und inszeniert sich damit als konservative Avantgarde auf globaler Bühne.

Am Horizont dieses Projekts zeigt sich eine migrationspolitische Dystopie: Zum Endpunkt einer Migration, in deren Verlauf mitunter Libyen, das Mittelmeer oder das belarussisch-polnische Grenzgebiet durchquert und überlebt wurden, wird ein 6500 Kilometer entfernter Staat, der gegen Geld als Sammelbecken für die Ausgeschlossenen fungiert. Im Erfolgsfall von anderen Staaten adaptiert, entstünde ein gobaler Entsorgungsmarkt für Menschen, die im Verlauf ihr Migration abgefangen und an einem beliebigen Ort abgeladen werden könnten, vorausgesetzt die beteiligten Staaten haben sich bilateral auf die Modalitäten geeinigt.

Über die Wirkung des Ruanda-Programms auf die als Erste Betroffenen, nämlich die in Calais und Dunkerque ausharrenden Migrant_innen, schrieb der französische Blog InfoMigrants, es habe „eine Welle der Angst und der Fragen“ ausgelöst: „Der Hof des Tageszentrums der katholischen Hilfsorganisation Secours Catholique im Stadtzentrum von Calais ist am Montag, dem 25. April, mit Leben gefüllt. […] Doch die Atmosphäre an diesem Ort, der am Nachmittag immer voller Leben ist, ist nicht wie sonst. Am Ende des Ramadan sind die Exilierten nicht nur müde, sondern auch besorgt über das Abkommen, das Großbritannien und Ruanda vor zehn Tagen unterzeichnet haben. Thomas und Jemy stammen beide aus dem Sudan. Sie sitzen auf Stühlen im Hof und gestehen, dass sie sich Sorgen machen, dass ihre Zukunft, die sie sich im Vereinigten Königreich vorgestellt hatten, sich verdunkelt hat, und suchen verzweifelt nach Antworten auf ihre Fragen. ‚Wenn wir nach Ruanda gehen, werden wir dann unser ganzes Leben dort bleiben?‘, fragt der 17-jährige Jemy […]. […] Sowohl für die Exilierten als auch für die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen ist es schwierig, diese Frage zu beantworten. Die britische Regierung hat bisher nur sehr wenige Details über das am 13. April mit Kigali unterzeichnete Abkommen bekannt gegeben.“ Vor diesem Hintergrund fasste InfoMigrants die wichtigsten Informationen über das französische Asylverfahren zusammen: Beunruhigt durch den Ruanda-Plan, sei der Bedarf an „Informationen über das Asylverfahren in Frankreich“ unter den Geflüchteten in Calais stark angestiegen.

Genau auf diese abschreckende Wirkung zielt der Nationality and Borders Act im Kern, und die Unsicherheit und Furcht, die er in den nordfranzösischen Camps entfaltet, werden von der britischen Regierung sicherlich als eine Bestätigung ihrer Politik begriffen werden. Sollte die Abschreckung tatsächlich funktionieren und sich beispielsweise in einer Verringerung der Bootspassagen auf der Kanalroute auch statistisch niederschlagen, so wäre in der Tat ein Signal gesetzt, dem andere Regierungen versucht sein könnten zu folgen.

Über 200 Organisationen, darunter Oxfam und Save the Children, kündigten nach der Verabschiedung des Nationality and Borders Act an, das Gesetz bzw. seine Umsetzung juristisch anfechten zu wollen. Care4Calais, die Gewerkschaft PCU, deren Mitglieder mit der Durchführung beauftragt sein werden, und Detention Action reichten am 26. April über die Kanzlei Duncan Lewis eine Anfechtung des Ruanda-Programm ein. In einer ähnlichen Konstallation und vertreten durch dieselben Jurist_innen war vor einigen Tagen der Plan der britischen Regierung zu Fall gebracht worden, Pushbacks im Ärmelkanal durchzuführen (siehe hier). „Die Abschiebung von Menschen nach Ruanda ist rechtswidrig, da sie Asylbewerber aufgrund ihrer irregulären Einreise bestrafen würde, was einen direkten Verstoß gegen die Flüchtlingskonvention darstellt“, so Care4Calais. Nachdem die Regierung inzwischen erklärt hat, vor dem 10. Mai 2022 keine Umsiedlungen nach Ruanda durchzuführen, arbeiten die Kläger_innen momentan auf eine Aussetzung bis zu einer richterlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme hin.

Innerhalb des dystopischen Rahmens, der durch den Nationality and Borders Act nun fixiert wurde, hat der Ruanda-Plan offenbar hohe Priorität, und auch dies mag ein Grund dafür gewesen sein, dass die Regierung es in Bezug auf die Pushbacks nicht auf eine Niederlange vor dem Obersten Gericht ankommen lassen wollte. Die Zwangsumsiedlungen nach Ruanda scheitern zu lassen, ist nun ein zentrales flüchtlingspolitisches Projekt auf zivilgesellschaftlicher und juristischer Ebene. Aussichtslos ist dies vermutlich nicht. Dystopien zeichnen sich durch ihre Fiktionalität aus. Die von ihren Autor_innen konstruierte Welt wird selten Realität.