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„We are going to kill ourselves“

Videobotschaft eines syrischen Geflüchteten, veröffentlicht von der Initiative Led By Donkeys am 10. Juni 2022. (Quelle: Led By Donkeys / YouTube)

In der oben stehenden Botschaft berichtet ein Syrer über die Gewalt, die er im Krieg erlebte, auch und vor allem durch Russland. Er spricht vom Verlust enger Angehöriger, von Gefangenschaft, der Überquerung zweier Meere und der Empathie, die er für Geflüchtete aus der Ukraine empfindet. Sodann beschreibt der Mann seine Erschütterung, als er sich nach der Ankunft in Großbritannien in Haft wiederfand und erfuhr, dass er nach Ruanda deportiert werden solle. Er spricht von Angst und Schlaflosigkeit im Brook House Immigration Removal Centre am Gatwick Airport – und einem Entschluss: „If they try to deport us to Rwanda, we all are going to kill ourselves.“ Seine Botschaft, die aus Furcht vor Repressalien von einem Schauspieler nachgesprochen ist, wurde vier Tage vor dem geplanten ersten Abschiebeflug – dieser soll am 14. Juni stattfinden – von der Gruppe Led By Donkeys veröffentlicht, die gern mit satirischen Mitteln arbeitet. Aber dies hat nichts mit Satire zu tun.

Die Botschaft des anonymen Syrers ist kein Einzelfall. Am 29. Mai 2022 berichtete die Zeitung Independent über den Fall eines 32jährigen afghanischen Mannes, der 2008 als Jugendlicher nach Großbritannien gekommen war. Er gehörte zu den etwas mehr als 100 Menschen, denen das britische Innenministerium seine Absicht mitgeteilt hat, sie nach Ruanda abzuschieben. „Ich habe vorgestern versucht, mir das Leben zu nehmen … Ich will nur frei sein, ich will bei meiner Familie sein, ich will ein Mensch sein“, zitiert ihn die Zeitung.

Anfang Juni wies das französische Onlinemedium InfoMigrants darauf hin, dass in britischen Medien „immer mehr Beispiele“ für Suizidversuche und Suizidankündigungen im Zusammenhang mit dem britisch-ruandischen Migrationsdeal zu finden seien: „Eine Iranerin, die einen Suizidversuch unternommen hatte, wurde in letzter Minute gerettet. Sie wurde notfallmäßig ins Krankenhaus eingeliefert, weil sie ihre bevorstehende Abschiebung nach Ruanda zur Bearbeitung ihres Asylantrags nicht mehr ertragen hätte. Die gleiche Verzweiflung herrschte bei einem 40-jährigen Jemeniten, der ebenfalls versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. In einem an Premierminister Boris Johnson gerichteten Video erklärte er, ‚keine andere Wahl zu haben‘. Der junge Mann hatte bei seiner Ankunft auf britischem Boden erfahren, dass ihm eine Abschiebung in das 7000 km entfernte Land drohte.“

InfoMigrants erinnert in diesem Zusammenhang auch an den Suizid eines 27jährigen Sudaners am 11. Mai 2022 bei Calais. Freunde hatten darauf hingewiesen, dass die Furcht vor einer möglichen Deporatation nach Ruanda seine verzweifelte Situation noch verschlimmert hatte (siehe hier).

Über andere Betroffene berichtete Al Jazeera am 8. Juni. Der Sender sprach mit fünfzehn für die Abschiebung nach Ruanda vorgesehenen Gefangenen im Colnbrook Immigration Removal Centre am Londoner Flughafen Heathrow, von denen einige einen Hungerstreik begonnen hatten. Ein 20jährigen Mann, der aus Syrien über den Balkan nach Europa geflüchtet war und sich im Hungerstreik befand, erklärte: „Ich werde mich weigern zu gehen, aber wenn die britische Regierung auf meiner Abschiebung nach Kigali besteht und mich in das Flugzeug zwingt, werde ich mir das Leben nehmen.“ Ein aus dem Iran geflüchteter Kurde äußerte sich ähnlich. „Wir hören tragische Geschichten über die schwerwiegenden Auswirkungen auf die psychische Gesundheit, mit Berichten über Selbstverletzungen“, zitiert der Sender den Leiter des britischen Refugee Counsil.

Diese Nachrichten fallen in eine Zeit, in der die juristische Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit des Ruanda-Deals noch nicht ausgefochten und daher noch unklar ist, ob das Flugzeug am 14. Juni starten wird oder nicht. Zudem finden momentan täglich Demonstrationen statt, um zivilgesellschaftlichen Druck zu erzeugen. Für einige Abschiebehäftlinge konnten bereits Erfolge erzielt werden. So meldete eine Vertreterin von Care4Calais, einer der gegen den Deal klagenden Organisationen, am 12. Juni: „Einem Mann, der die schlimmste Folter erlitten hat, die mir je beschrieben wurde, wurde gerade sein Ticket nach Ruanda storniert. Mindestens zehn Minuten lang haben wir beide am Telefon vor lauter Glück und Erleichterung geweint. […] Dieser wunderbare Mann, der so viel gelitten hat, hätte niemals die Hölle der letzten Wochen durchmachen müssen. Die Qualen, die er erlebt hat, haben ihn in ständige Schmerzen versetzt. In Haft zu sein, zum zweiten Mal in seinem Leben in absoluter Angst zu leben, war die Hölle.“

Genau dies ist der Punkt. Die drohende Abschiebung nach Ruanda trifft Menschen, die in ihren Herkunftsländern und während ihrer Migration schwere Traumatisierungen erlebt haben. Wer momentan in Calais nach der psychischen Verfassung der Exilierten fragt, erfährt rasch, wie sehr das Thema Ruanda sie zusätzlichem Streß und zusätzlichen Ängsten aussetzt. Die Schilderungen aus den Haftzentren lassen massive Retraumatisierungen vermuten. Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, dass das Ticket nach Ruanda dann die Katastrophe auslösen kann.