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Calais

Vier Jahre in flagranti

Video von Human Rights Observers, 8. August 2022. (Quelle: HRO / Twitter)

Mindestens 4.684 mal innerhalb von vier Jahren räumten Polizei und Gendarmerie in Calais ein Camp in flagranti. Diese spezielle Praxis von Räumungen – sie zielen nicht auf die Auflösung eines Siedlungsplatzes oder die Evakuierung der Bewohner_innen, sondern wiederholen sich an gleicher Stelle im Turnus von etwa 36 bis 48 Stunden (siehe hier, hier und hier) – begann vor genau vier Jahren, am 8. August 2018. Damals wurden bis zum Jahresende 452 Räumungen gezählt, in den beiden folgenden Jahren waren es 961 (2019) und 967 (2020). In diesem Jahr stieg die Zahl signifikant: Zwischen dem 1. Januar und dem 8. August 2022 waren es mindestens 1.079.

Diese Praxis der Räumungen beruht auf der rechlichen Fiktion, dass eine illegal auf fremdem Boden errichtete Siedlung in flagranti entdeckt wird und damit unmittelbar geräumt werden darf – ließe man sie bestehen, so könnten die Bewohner_innen rechtliche Schritte einleiten, um ihre Situation zu verbessern. Die Berufung auf dieses Prinzip der flagrance umgeht den Schutz, den das französische Recht selbst prekären Wohnungen einschließlich einem Zelt zubilligt. Die permanente Berufung auf flagrance schafft einen irregulären und paradoxen Rechtsraum, indem ein Camp über Monate und sogar Jahre hinweg seriell geräumt wird, so als würde es ständig von Neuem entdeckt. Flagrance wird zur Permanenz. In dem oben eingebundenen Video der Human Rights Observers sagt ein CRS-Beamter am Ende einer solchen Räumung ins Megaphon: „We come back in two days. In two days, it’s the same.“

Diese Räumungspraxis begann 2018 knapp zwei Jahre, nachdem im Oktober 2016 der mit zeitweise über zehntausend Bewohner_innen größte aller Jungles of Calais geräumt und die aus Hütten, Zelten und Containern bestehende Siedlung buchstäblich dem Erdboden gleich gemacht worden war. Die verantwortlichen Politiker_innen erklärten es damals für nicht hinnehmbar, dass eine solche Situation in Calais jemals wieder entstehe. Fortan verfolgen die Behörden eine Nulltoleranzpolitik, die sich gegen sogenannte points de fixation (Fixierungspunkte) richtet. Gemeint waren zunächst die kleinen, diskreten und hochgradig prekären Schlafstellen der wenigen Exilierten, die nach der großen Räumung in der Stadt verblieben waren, zurückkehrten oder neu ankamen. Damit verknüpft waren von Anfang an Beschlagnehmungen von Zelten und anderem Privateigentum der Betroffenen. Als sich diese Schlafstellen allmählich wieder zu sichtbaren Camps verdichteten, passten die Behörden ihre Taktik mit der Erfindung einer permanenten flagrance an. Weitere zwei Jahre später verbot die Präfektur erstmals die Verteilung von Lebensmitteln und Hilfsgütern durch Organisationen ohne expliziten staatlichen Auftrag in der Nähe der meisten Camps (siehe hier). Auch diese zunächst befristete Praxis wurde rasch verstetigt. Die Folgen benennen die Human Rights Observers einmal mehr am Ende des Videos: Vier Jahre der Erniedrigungen, der Diebstähle und der Gewalt.