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Polizeigewalt in Calais

In der Nacht vom 22. auf den 23. August kam es in Calais zu einem Vorfall von mutmaßlicher Polizeigewalt, in dessen Verlauf zwei 18jährige Eritreer von Beamten der Compagnie Républicaine de Securité (CRS) misshandelt und hilflos zurückgelassen wurden. Polizeigewalt gegenüber Exilierten ist in Calais nicht selten; das besondere an dem genannten Vorfall ist die spätere Meldung eines anonymen Zeugen – nach eigenen Angaben selbst Angehöriger der CRS.

Wir dokumentieren im folgenden die Erklärung der Organisation Utopia 56 vom 8. September 2022 zu dem Vorfall in eigener Übersetzung.

Nach Presseberichten hat die Staatsanwaltschaft von Boulogne-sur-Mer inzwischen Ermittlungen aufgenommen und die in Frankreich für die Aufklärung von durch Polizist_innen begangene Straftaten zuständige Inspection générale de la Police nationale (IGPN) mit der Untersuchung des Vorfalls beauftragt.

Screenshot aus der Pressemitteilung von Utopia56 (Foto: Utopia 56)

Polizeigewalt in Calais: Ein Polizist berichtet über die Vorfälle

Donnerstag, 8. September 2022

In der Nacht vom 22. auf den 23. August wurde das Team von Utopia 56 um 01:15 Uhr über seine Notrufnummer gerufen. Es war zu Polizeigewalt gegenüber Exilierten gekommen.

Human Rights Observers (HRO), ein von der Auberge des Migrants unterstütztes Projekt, und Utopia 56 haben sich an die Staatsanwaltschaft von Boulogne-sur-Mer gewandt, damit die Täter des gewalttätigen Vorfalls identifiziert und vor Gericht gestellt werden können.

Die folgenden Feststellungen stützen sich auf die Erzählungen der Opfer gegenüber den Teams von HRO und Utopia 56.

In dieser Nacht begab sich eine Gruppe von Exilierten aus Eritrea auf den Parkplatz einer Tankstelle in Calais, in der Hoffnung, auf einen Lkw zu gelangen und so das Vereinigte Königreich zu erreichen. Als sie dort ankamen und einen Transporter der CRS sahen, kehrte ein Teil der Gruppe um, und nur zwei Personen im Alter von 18 Jahren blieben zurück.

Als die CRS-Beamten auf gleicher Höhe mit den Exilierten ankamen, versetzte einer der Polizisten den beiden einen ersten Schlag ins Gesicht. Die CRS-Beamten packten die beiden Personen an den Armen und führten sie in eine Seitenstraße, wo keine Überwachungskameras vorhanden waren, was eine vorsätzliche Handlung darstellt. Einer der Beamten versetzte daraufhin einem der Exilierten einen weiteren heftigen Schlag ins Gesicht, woraufhin dieser zu Boden fiel. Nachdem auch die zweite Person zu Boden gegangen war, traten etwa sieben CRS-Beamte die beiden auf dem Boden Liegenden mehrfach mit den Füßen. Die Polizisten gingen lachend weiter und ließen die beiden verletzten Personen am Boden liegend zurück.

Die Freunde der Opfer kehrten später zurück und riefen Utopia 56 an, um ihnen von dem gewalttätigen Vorfall zu berichten. Ein Kastenwagen der CRS-Kompanie V/54, der nach den Gewalttätigkeiten am Ort des Geschehens eintraf, war anwesend, als die Freiwilligen von Utopia 56 am Ort des Geschehens ankamen. Eines der Opfer lag noch am Boden und hatte Blut im Gesicht. Die Feuerwehr wurde verständigt und brachte eines der Opfer in ein Krankenhaus.

Das in der Nacht von einem Arzt des Krankenhauses in Calais ausgestellte ärztliche Attest stellt Blutungen, eine gebrochene Nase, Schmerzen beim Abtasten des Brustkorbs sowie Schmerzen im Skrotum fest.

Am Morgen des 23. August erhielt die Vereinigung L’Auberge des Migrants einen anonymen Anruf einer Person, die sich als CRS in Calais ausgab und die Gewalttätigkeiten der vorangegangenen Nacht anzeigen wollte: „Das ist ein anderer Zug, ein anderes Fahrzeug der CRS 54, sie lassen es wie einen Unfall aussehen, das ist inakzeptabel, sie haben den Armen wie einen ausgesetzten Hund zurückgelassen, es sind diese Art von Kollegen, die uns enorm schaden“. Im Jahr 2020 hatte die Aussage von Gendarmen in Calais bereits zu einer Verurteilung nach gewalttätigen Raubüberfällen durch ihre Kollegen geführt.

Auf Anfrage von HRO bestätigte der Défenseur des droits [unabhängiger Menschenrechtsbeauftragter in der französischen Verwaltung], dass er die notwendigen Schritte unternommen hat zur Sicherung der Aufzeichnungen der Überwachungskameras an der Tankstelle, an der die Gewalttätigkeiten begannen.

Am 31. August wurde dem Staatsanwalt von Boulogne sur Mer, Herrn Guirec Le Bras, eine Anzeige mit den bekannten Fakten übermittelt.

Am 9. Oktober 2021 hatte der Innenminister [noch] erklärt: „[…] Was ich sagen und feststellen kann ist, dass trotz aller Vorwürfe, die man den Ordnungskräften macht, kein einziger Polizist und kein einziger Gendarm an der Küstenlinie strafrechtlich verfolgt wurde.“ Wie in einer assoziationsübergreifenden Pressemitteilung vom 26. Oktober 2021 „Violences policières: à Calais, Darmanin ment!“ erwähnt, wurden [allerdings] seit 2015 bereits mindestens fünf Angehörige der Ordnungskräfte verurteilt.

Die Berichte über die Polizeigewalt in Calais sind üblich, aber nur ein Bruchteil dieser Vorkommnisse führen zu Ermittlungen und Verurteilungen. Diese Gewalt ist in erster Linie das Ergebnis einer Politik der Schikanen und der Misshandlungen, wie sie seit Jahren an der Grenze betrieben wird. Eine Politik, die trotz des erklärten Ziels nur dazu geführt hat, dass die illegalen Schleusernetzwerke gestärkt wurden und das auf Kosten (des Schutzes) der Exilierten und der Einwohner.

Utopia 56