Der Brandanschlag auf ein Aufnahmezentrum für Channel migrants im Hafen von Dover am 30. Oktober 2022 (siehe hier) wirft die Frage nach rechtsextremer Gewalt im Kontext der französisch-britischen Grenze auf. Wir haben daher in Calais nachgefragt und erfuhren von Übergriffen gegen freiwillige Helfer_innen und gegen Versorungsinfrastrukten für Exilierte. Am 23. September 2022 gipfelte dies in Steinwürfen auf einen Transporter der Hilfsorganisation Collective Aid. Hinter den Übergriffen steht vor allem ein Anwohner, der inzwischen für den Sachschaden an dem Fahrzeug haftbar gemacht wurde. Nicht aber für den Angriff gegen Personen.
Der Übergriff am 23. September ereignete sich in der Nähe eines informellen Lebensorts von Geflüchteten hinter dem Krankenhaus von Calais. In der Vergangenheit hatten Geflüchtete dort in einem leerstehenden Hallenkomplex gelebt, der inzwischen abgebrochen ist. Während des Sommers verteilten Freiwilligenteams von Collextive Aid dort, wie auch an anderen Verteilungspunkten im Stadtgebiet, Kleidung an Gelüchtete. Im Laufe dieser Zeit wurde ein Nachbar zunächst verbal ausfallend und trat immer einschüchternder auf. Im gleichen Zeitraum wurde ein Wassertank, den das Collaid Food Collective für die Bewohner_innen des Camps aufgestellt hatte, dreimal kurz hintereinander sabotiert; außerdem wurden die Reifen eines Fahzeugs plattgestochen. Ob diese Sabotage mit dem Mann in Verbindung steht, lässt sich nicht belegen.
Über das Geschehen am 23. September sagte eine Freiwillige von Collective Aid später der Lokalzeitung Nord Littoral, der Mann habe während der Verteilung von Kleidung damit begonnen, die Geflüchteten und die Helfer_innen zu beleidigen. „Er fing an, uns zu filmen und sagte uns, dass er die Polizei gerufen habe. Dann sahen wir Steine, die über den LKW flogen.“ Einem anderen Zeitungsbericht zufolge wurden „die Freiwilligen und eine Familie von Exilierten mit Wurfgeschossen beworfen.“ Als Collective Aid die Verteilung abbrach, eskalierte der Mann die Situation weiter. Ein aus dem fahrenden Transporter aufgenommenes Video (siehe oben) zeigt vier Steinwürfe auf das Fahrzeug. Deutlich ist zu sehen, wie der Mann einen Stein nach dem anderen wirft. Das Auto wurde dabei beschädigt, ein Knall ist zu hören.
Noch am selben Tag erstattete Collective Aid Anzeige gegen den Angreifer, der gegenüber den Behörden zugab, die Steine geworfen zu haben. Während die Polizei die Anzeige wegen Sachbeschädigung an dem Auto aufnahm, weigerte sie sich, eine weitere Anzeige der beiden Freiwilligen anzunehmen, die durch die Steinwürfe angegriffen und gefährdet worden waren: „Sie sagten uns immer wieder, dass sie nichts tun könnten, weil die Steine uns nicht getroffen hätten“, zitiert Nord Littoral eine deutsche Freiwillige. Auch ein zweiter Versuch, die Strafanzeige einige Tage später einzureichen, verlief erfolglos. Juristisch hätte die Anzeige aufgenommen werden müssen, so eine von der Zeitung befragte Rechtsanwältin.
Die Steinwürfe bleiben damit straffrei. „Nach Prüfung der Fakten und der Akte wurde der Fall von der Staatsanwaltschaft ohne weitere Maßnahmen zu den Akten gelegt. Mit anderen Worten: Es wird keine strafrechtliche Verfolgung geben. Der Angeklagte erklärte sich nämlich bereit, Collective Aid in Höhe des verursachten Schadens zu entschädigen“, meldete die Lokalzeitung La voix du Nord am 19. Oktober 2022. Für Collective Aid und andere lokale Organisationen ist dies zutiefst unbefriedigend, zumal es nicht der einzige Aggression auf Freiwillige war.
Denn in denselben Zeitraum fällt ein weiterer Übergriff. Er galt einer Wohnung von Freiwilligen. Eine Scheine der Tür wurde zerstört und Gegenstände in die Wohnung geworfen.
Rechtsextreme Gewalt ist in Calais seit mehreren Jahren nicht mehr so ausgeprägt und präsent, wie es um 2014/15 der Fall war, als sich mehrere rechtsextreme Gruppierungen herausbildeten und in öffentlichen Kampagnen gegen Geflüchtete mobilisierten. Dennoch werten Vertreter_innen von Collective Aid und Human Rights Observers, mit denen wir über die rechtsextremen Vorfälle sprachen, sie als eine Zunahme gegenüber den vergangenen Jahren.