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Channel crossings & UK

Nichtrettung an der Seegrenze

Dank der französische Zollgewerkschaft Solidaires Douanes Gardes-Côtes wurde ein Vorfall öffentlich, der sich am 2. Januar 2023 an der Seegrenze inmitten des Ärmelkanals ereignet hat: Ein Schlauchboot mit 38 Geflüchteten erreichte britisches Hoheitsgebiet und geriet in Seenot. Die britische Küstenwache sicherte einen Rettungseinsatz zu, der jedoch nicht erfolgte. Vielmehr trieb das Boot in französische Gewässer zurück und wurde dort von der Besatzung eines Zollschiffs gerettet. Die Gewerkschaft der Zöllner_innen wirft der britischen Seite vor, die Geflüchteten in der Erwartung, dass sie über die Seegrenze zurücktreiben würden, sich selbst überlassen und damit ihr Leben aufs Spiel gesetzt zu haben.

Die Gewerkschaft lagte eine Chronologie der Ereignisse vor, in die auch Beobachtungen der im Küstengebiet tätigen Organisation Utopia 56 einflossen. Demnach stach das Boot vom Typ Zodiac mit 38 Passagier_innen am 2. Januar in der Nähe von Gravelines zwischen Dunkerque und Calais in See. Das Boot war untermotorisiert, sodass die Gruppe „von den Wellen hin und her geworfen wurde“ und gegen den Wind ankämpfen musste. In dieser Situation wurde das Patrouillenbot Kermorvan des Zolls eingesetzt, damit es das Schlauchboot begleitet und gegebenfalls für einen Rettungseinsatz zur Stelle ist – das im französischen Teil des Ärmelkanals übliche Verfahren. „Zu diesem Zeitpunkt bitten die Menschen nicht um Hilfe“, so die Gewerkschaft unter Berufung auf Besatzungsmitglieder der Kermorvan. Ein solcher Hilferuf ist die Voraussetzung für den Start einer Rettungsoperation.

Bei Einbruch der Dämmerung gegen 17:30 Uhr passierte der Konvoi die Seegrenze und fuhr in britische Hoheitsgewässer ein. Dort traf er, so die Gewerkschaft, auf das Schiff BF Typhooon der britischen Küstenwache, „die daraufhin erklärte, dass sie die Sicherheit des Bootes übernehme. Das CROSS Gris-Nez [französische Leitstelle für Rettungseinsätze, d. Verf.] gab der Kermorvan freie Fahrt, und die französischen Zollbeamten nahmen ihre Patrouille in der Straße von Dover wieder auf.“ Etwa 30 Minuten später teilte CROSS Griz-Nez der Kermorvan dann mit, dass das Schlauchboot abgetrieben worden sei und sich wieder in französischen Gewässern befinde.

Was in der Zwischenzeit geschehen war, ergibt sich aus Zeugenaussagen, die Passagier_innen später gegenüber Utopia 56 machten. Demnach war der Motor des Schlauchboots nach Überquerung der Grenze ausgefallen. Der Kapitän des britischen Rettungsschiffes habe den Geflüchteten mitgeteilt, „dass er nicht genügend Platz habe, um sie an Bord zu nehmen, und hinzugefügt, dass ein anderes englisches Schnellboot unterwegs sei, um ihnen zu Hilfe zu kommen. Diese Hilfe kam jedoch nie an.“ Rémi Vandeplanque, der am Einsatz des französischen Zollschiffs beteiligt gewesen war, sagte dem Guardian: „When we started following them they were in French waters then we followed them into British waters. They were Border Force, British coastguard. We spoke to them on the VHF radio. They said OK they would rescue the people on the dinghy.“

Der Vorwurf der Zollgewerkschaft lautet, dass die britische Küstenwache einen Rettungseinsatz zusagte, aber nicht durchführte, sodass das manövrierunfähige Boot wieder in französische Gewässer zurücktrieb, wo die Kermovan im Vertrauen auf einen britischen Rettungseinsatz bereits wieder zur Routine zurückkehrte. Vandeplanque sprach von einem beispiellosen Vorgang. Aus Sicht der Gewerkschaft wurde eine neuerliche Tragödie nach den tödlichen Havarien der vergangenen Jahre „nur knapp vermieden“.

Eine Stunde später, gegen 19:00 Uhr, machte die Kermorvan das Schlauchboot schließlich ausfindig. „Die Nacht war hereingebrochen und die Suchscheinwerfer reichten kaum aus, um auf 200 Meter Entfernung Sichtkontakt zu halten.“ In der Hoffnung, es doch noch nach Großbritannien zu schaffen, versuchten die Passagier_innen, die Seegrenze wieder zu erreichen, was ihnen jedoch nicht gelang. „Kurz nach 21:00 Uhr baten sie in Panik um Hilfe und wurden in einem gefährlichen Manöver einzeln an Bord der Kermorvan gebracht, wo sie Rettungsdecken, Essen und warme Getränke sowie den Schutz eines aufblasbaren Zeltes erhielten, das auf dem Deck befestigt war, um sie vor Regen und Wind zu schützen“, so die Gewerkschaft.

Die Geflüchteten wurden im Hafen von Calais ausgeschifft und rudimentär versorgt. Angèle Vettorello von Utopia 56 berichtete dem Guardian: „Die Menschen, die aus dem Schlauchboot gerettet wurden, hatten sehr nasse Kleidung. Sie sagten uns, dass sie auf dem GPS ihres Handys gesehen hätten, dass sie in britische Gewässer gelangt waren. Wenige Minuten nach der Überfahrt in britische Gewässer fiel ihr Motor aus.“ Wie schon häufig dokumentiert, wurden die meisten Geflüchteten am späten Abend des 2. Januar ohne weitere Unterstützung auf der Straße zurückgelassen. Eine Person wurde mit Unterkünhlung im Krankenhaus behandelt.

Aus Sicht der Gewerkschaft „hat das Vereinigte Königreich deutlich gemacht, dass es nicht bereit ist, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, und damit wissentlich die 38 Passagiere eines Bootes, das jeden Moment hätte kentern können, in Gefahr gebracht.“ Auch auf französischer Seite befürchtet die Gewerkschaft eine weitere Verschärfung hin zu „autoritären und kaltblütigen“ Methoden. Die Gewerkschaft kündigt an: „Angesichts dieser Situation werden wir systematisch alle Misshandlungen und unwürdigen Anweisungen veröffentlichen, von denen wir Kenntnis erhalten.“

Der Verdacht, dass es im Ärmelkanal möglicherweise ‚kalte Pushbacks‘ durch das Zurücktreibenlassen in französische Gewässer gibt, wurde bereits nach der tödlichen Havarie mit 31 Todesopfern am 24. November 2021 geäußert (siehe hier).