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Channel crossings & UK

Humanitäres Visum: Ein Vorschlag und seine Kehrseite

Kanalfähre bei Calais. (Foto: Th. Müller)

Migration, und insbesondere die undokumentierte Querung des Ärmelkanals, ist zu einem Agitationsfeld der britischen Rechten geworden. Während die Londoner Regierung eine alarmistisch-disruptive Rhetorik benutzt, wurden im Februar 2023 Hotels, in denen Geflüchtete untergebracht sind, zum Ziel teils gewalttätiger Straßenproteste. In Kürze wird die Rishi Sunak den Entwurf eines Migrationsrechts vorstellen, das zu den restriktivsten Europas gehören dürfte. In dieser Situation hat der Thinktank British Future im Februar einen Gegenentwurf vorgelegt, der u.a. humanitäre Visa für eine legale Einreise nach Großbritannien vorsieht. Wäre der Vorschlag Realität, so hätte ein Teil der fast 46.000 Channel migrants des Jahres 2022 den Ärmelkanal auf einer Fähre statt in einem Schlauchboot überqueren dürfen. Dennoch stellt der Vorschlag keine Abkehr von der repressiven Grenzpolitik der vergangenen Jahrzehnte dar. Er schreibt sie vielmehr unter realistischeren Bedingungen fort und könnte, würde er umgesetzt, eine riskantere Situation für diejenigen schaffen, die nicht von einem solchen Visum profitieren. Spielen wir den Vorschlag doch einmal durch.

Das am 18. Februar veröffentlichte Papier trägt den Titel Control and compassion: A new plan for an effective and fair UK asylum system. Mitautor ist mit Sunder Katwala der Direktor von British Future und frühere Generalsekretär der sozialdemokratischen Fabian Society; er warb am Tag der Veröffentlichung mit einem Gastbeitrag im Guardian für seinen Reformplan. Einige Abgeordnete verschiedener Parteien, darunter auch der Konservativen, begleiteten die Veröffentlichung mit gut zitierbaren Statements. Der Geschäftsführer des Refugee Council, Enver Solomon, erklärte: „Wie British Future dargelegt hat, sollte sich die Regierung darauf konzentrieren, mehr sichere Wege für Menschen zu schaffen, um das Vereinigte Königreich zu erreichen, z. B. durch ein Flüchtlingsvisum, und den Rückstau bei den Asylentscheidungen abzubauen, der sich über mehrere Jahre hinweg aufgebaut hat.“

Bisherige safe routes: temporär, selektiv, fehlend

Aus einer solidarischen Perspektive läßt sich kaum bezweifeln, dass die Schaffung einer legalen und sicheren Route ein Fortschritt wäre.

In der Ärmelkanalregion wechseln sich seit den 1990er-Jahren Perioden der Öffnung und Verschließung legaler Wege ab, wobei die Grenze für den größten Teil der betroffenen Menschen durchgängig geschlossen blieb. Als sich ab 1999 in der Gemeinde Sangatte bei Calais zum ersten Mal mehrere tausend Migrant_innen in einem provisorischen Zentrum des Roten Kreuzes ansammelten und die Aufmerksamkeit der internationalen Medien auf sich zogen, erlaubte die britische Regierung 2002 einem Teil von ihnen die legale Einreise. Es war eine punktuelle und selektive Lösung, die an die Auflösung des Rotkreuz-Zentrums gekoppelt war, einen Teil der betroffenen Menschen im Raum Calais zurückließ und keinen Rechtsanspruch auf legale Einreise begründete. Wenige Wochen später unterzeichneten die Regierungschefs Frankreichs und Großbritanniens in Le Touquet einen Vertrag, der die Vorverlagerung britischer Grenzkontrollen auf französisches Gebiet umfassender festschrieb als je zuvor.

In ähnlicher Weise erlaubte Großbritannien 2016 die Einreise eines Teils der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten aus dem damaligen Jungle von Calais. Ihre Aufnahme geschah in einem regelrecht aus dem Boden gestampften Verfahren, das die finale Räumung des Jungle humanitär flankierte und zugleich überdeckte, dass jahrelang keine funktionierenden Strukturen für Zusammenführungen gemäß dem Dublin-Regelwerk der EU etabliert worden waren. Um sich für eine legale Einreise nach dem improvisierten Verfahren zu qualifizieren, mussten die unbegleiteten Jugendlichen eng gefasste Kriterien erfüllen, sodass Hunderte in Frankreich zurückblieben und teils im folgenden Winter wieder obdachlos in Calais lebten. Auch diesmal entstand kein Rechtsanspruch auf eine sichere Einreise.

Eine dritte safe route hatte das britische Parlament 2016 durch einen Zusatz zum Einwanderungsgesetz eröffnet. Die vom Labour-Abgeordneten Alf Dubs durchgesetzte und nach ihm benannte Regelung verpflichtete die Regierung zur Aufnahme einer nicht exakt benannten Zahl besonders vulnerabler minderjähriger Geflüchteter aus Camps in der EU. Auch diese Initiative entstand vor dem Hintergrund des Jungle von Calais und der Lage in Griechenland; Vorbild waren die historischen Kindertransporte, die jüdischen Kindern eine Einreise aus dem nationalsozialistischen Machtbereich ermöglicht hatten. Obschon gesetzlich verankert, bremste die Regierung die Regelung zunehmend aus und erklärte ihre Verpflichtungen schließlich Anfang 2021 als erfüllt (siehe hier). Einige hundert Minderjährige aus Calais gelangten auf diesem Wege legal nach Großbritannien – ein Bruchteil der ursprünglichen Erwartungen. Danach gelang es Dubs nicht, eine Nachfolgeregelung zu etablieren.

So begrenzt und unzureichend diese früheren safe routes waren – heute existiert keine mehr. Generell nehmen legale, gruppenbezogene und limitierte Einreisewege in der britischen Migrationspolitik einen höheren Stellenwert ein als etwa in der deutschen; es gibt solche Regelungen etwa für Menschen aus Honkong und der Ukraine, für afghanische Ortskräfte oder im Rahmen von Resettlement-Verfahren in bestimmten Krisenregionen. Auf die in Nordfrankreich und Belgien ‚strandenden‘ Migrant_innen trifft jedoch keine dieser Regelungen zu. Die britischen Regierung versucht im Gegenteil, die Überquerung des Ärmelkanals in einem small boat als Auschlusskriterien zu etablieren.

Der Vorschlag von British Future würde diesen Zustand aufbrechen und erstmals einen legalen Einreiseweg institutionalisieren, der nicht bloß auf eine akute Krise reagiert und sich nicht nach kurzer Zeit wieder automatisch verschließt.

Das vorgeschlagene humanitäre Visum

Das vorgeschlagene humanitäre Visum soll es Menschen mit einem prima facie, also einem auf den ersten Blick einleuchtenden, Asylgrund erlauben, nach Großbritannien einzureisen und dort ein Asylverfahren zu durchlaufen. Ausserdem soll es Menschen zugute kommen, deren Angehörige in Großbritannien leben, die eine britische Hochschulausbildung besitzen oder sich längere Zeit legal im Land aufgehalten haben (vgl. S. 24 des Papiers).

Das Visum soll, so der Vorschlag, nicht im nordfranzösischen und belgischen Küstengebiet erteilt werden, sondern in räumlicher Diszanz zur Grenze. Vorgeschlagen werden etwa die britischen Konsulate in Paris, Brüssel, Mailand oder Athen. In Calais und Dunkerque sollen jedoch „Informationsstellen“ eingerichtet und eine Beförderungsmöglichkeit für Interessierte zum zuständigen Konsulat angeboten werden. Das humanitäre Visum würde dann die legale Einreise ermöglichen und zur Asylbeantragung innerhalb einer bestimmten Frist verpflichten. Gleichzeitig verpflichte die Annahme des Visums „zur Rückkehr im Falle, dass ein Asylantrag abgelehnt wird“ (S. 24).

Die Zahl dieser humanitären Visa sollte, so der Vorschlag, jährlich vom Parlament festgelegt werden. Vorgeschlagen wird, mit 40.000 humanitären Visa zu beginnen, „vergleichbar der derzeitigen Zahl der Asylanträge in Großbritannien“ (ebd.). Letztlich gäbe es also eine Obergrenze, die jährlich neu auszuhandeln wäre.

Darüber hinaus formuliert das Papier weitere Kriterien, darunter die Beschränkung der humanitären Visa auf Staatsangehörige von Ländern mit hoher Anerkennungsquote oder schweren Menschenrechtsverletzungen sowie die Reservierung eines Teils der Visa für Frauen und besonders vulberable Gruppen. Auch die Festlegung solcher Kriterien solle jährlich durch das Parlament erfolgen.

Die Autor_innen weisen darauf hin, dass ein Asylantrag auch für Einreisende ohne humanitäres Visum möglich bleiben müsse, allerdings setzen sie darauf, dass das Visum von der überwiegenden Zahl der Einreisewilligen genutzt würde. Dies, so argumentieren sie, würde das Geschäftsmodell kommerzieller Schleuser_innen viel eher durchkreuzen als etwa der gegenwärtige Ruanda-Plan der Regierung, „und das zu wesentlich geringeren Kosten“ (ebd.). In der innenpolitischen Debatte ist dies ein zentraler Punkt: Seit Jahren versprechen britische Innenminister_innen, die Bootspassagen zu stoppen, indem sie das Geschäftsmodell für Schleusungen unrenrabel machen. Problematisch hieran ist nicht nur, dass diese Taktik nicht funktioniert, sondern auch, dass sich ein humanitäres Zugeständnis durch seinen Effekt auf die Kriminalitätsbekämpfung legitimieren muss. Im Fall des vorgeschlagenen humanitären Visums ist absehbar, dass die Anbieter_innen von Schleusungen schlicht diejenigen adressieren würden, die sich nicht für ein Visum qualifiziert haben oder aufgrund der Obergrenze nicht zum Zuge gekommen sind. Die Antwort der lautet dann nicht compassion, sondern control.

Der blinde Fleck

Die Idee eines humanitären Visums ist Teil einer umfassenden Reformagenda, die British Future als linke Alternative zum Populismus der amtierenden Rechtsregierung ausbuchstabiert. Dahinter steht die Vorstellung einer ‚Realpolitik‘, die auch für Liberale und gemäßigte Konservative akzeptabel ist. Der Titel Control and Compassion bezieht sich auf die 2018 durchgeführte National Conversation on Immigration und versteht sich als eine Konsensformel. Auf dieser Basis verwerfen die Autor_innen die ideologiegetriebene Agenda der Regierung und abreiten heraus, dass ihre zentrale Projekte wie etwa das Ruanda-Abkommen letztlich kontraproduktiv sind.

Die vorgeschlagenen Alternativen lesen sich wie ein Querschnitt durch die Migrationspolitiken liberaler europäischer Demokratien: Eine Willkommenskultur soll die soziale und berufliche Integration verbessern; die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Akteure und der Kommunen wird betont; bessere parlamentarische und zivilgesellschaftliche Kontrolle soll das Vertrauen der Geflüchteten in die Behörden erhöhen; klug aufeinander abgestimmte Maßnahmen sollen die Migration bereits in den Herkunfts- und Transitländern reduzieren; Entwicklungshilfe soll an Migrationskontrolle geknüpft sein; für freiwillige Rückführungen soll geworben und zwangsweise Abschiebungen sollen konsequent durchgeführt werden. Control erscheint als Bedingung für compassion und eine effektivere Bekämpfung illegalisierter Migration wird zur Bedingung für die safe route.

Auf die Situation in der Kanalregion heruntergebrochen, wird rasch erkennbar, dass das humanitäre Visum mit verstärktem Druck auf diejenigen einhergehen würde, die nicht in seinen Genuss kommen: „Wir sollten Menschen aus den Händen von Kriminellen befreien, indem wir ihnen ein neues humanitäres Visum für die Einreise in das Vereinigte Königreich anbieten. Zugleich sollte das Vereinigte Königreich mit seinen Verbündeten zusammenarbeiten, um mit den Schmuggel fertigzuwerden die Treiber der irregulären Migration zu reduzieren, aber auch, um die Rückkehr von Menschen zu beschleunigen, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Ein solches System ist fair gegenüber denjenigen, die einen echten Anspruch auf Asyl haben, da ihre Fälle schnell geklärt werden können, stärkt aber auch unsere Grenzen.“ (S. 19)

Es liegt auf der Hand, dass sich die Zurückbleibenden in derselben humanitären und menschenrechtlichen Krise wiederfinden werden, die wir seit Jahren beobachten und dokumentieren. Im Reformprogramm von British Furure ist dies der blinde Fleck. Weder die humanitäre Grundversorgung der Menschen in den Camps, noch ein wirsamer Schutz vor polizeilicher und krimineller Gewalt sind Teil des Reformprogramms. Die Einbeziehung der zivilgesellschaftlichen Sturkturen in Calais oder Dunkerque wird ebenso wenig bedacht wie die Verbesserung der Seenotrettung oder die Eigendynamiken, die sich aus den massiven Investitionen in die Sekuritisierung der Küstenlandschaft ergeben. Das humanitäre Visum für die Einen könnte vor diesem Hintergrund leicht zur Rechtfertigung dafür werden, die Zurückbleibenden einer umso zermürbenderen Lebenswirklichkeit auszusetzen.

Kehrseite des Humanitären

Die Autor_innen bringen einen Ansatz ins Spiel, den sie als „umfassenden Kooperation“ (comprehensive cooperation, S. 26-29) zur Bekämpfung der Bootspassagen bezeichnen. Sie grenzen ihn sowohl von einer multilaterialen Lösung auf EU-Ebene ab, als auch von einer nationalistischen Souvereignity first-Position. Zugleich verwerfen sie die Idee, Frankreich durch ein Abkommen zum aktiven Abfangen der Boote auf See zu bewegen, bringen jedoch genau dies als Element der vorgeschlagenen „umfassenden Kooperation“ wieder ins Spiel.

Der Ansatz einer „umfassenden Kooperation“ basiert auf einem Ausbau der bilaterialen Zusammenarbeit mit Frankreich und Belgien. Mit beiden Staaten soll die Regierung „neue Abkommen“ abschließen, um eine „operative Zusammenarbeit“ zwischen Polizei- und Grenzschutzbehörden, gemeinsame Ermittlungen und den Austausch von Information und Technologie zu verbessern (S. 27). Dies entspricht den bilateralen Vereinbarungen der vergangenen Jahre (siehe hier) und ist insofern keineswegs neu.

Neu hingegen ist die Forderung, dass sich Frankreich und Belgien in solchen Abkommen bereit erklären sollten, „small boats an Stränden und in ihren Hoheitsgewässern [sic!] abzufangen und die Asylanträge in ihren Ländern zu bearbeiten“ (ebd.). Großbritannien würde im Gegenzug mittels humanitärer Visa einen Teil der Menschen aus den Camps übernehmen. Vorgeschlagen wird also nicht weniger als die Implementierung von Pullbacks als Gegenleistung für eine safe route. Ein solches aktives Abfangen der Schlauchboote findet, außer in Notsituationen, in den französischen und belgischen Hoheitsgewässern bisher nicht statt, und zwar aus guten Gründen: Eine Bergung gegen den Willen und möglicherweise auch gegen den Widerstand der Passagier_innen würde schlicht Menschenleben riskieren.

So erscheint dieser konkrete Vorschlag am Ende doch problematisch. Dem humanitären Visum für die Einen stünde das gezieltere Vorgehen gegen die Anderen gegenüber. Und auch wenn die Idee nicht in konkretes Regierungshandeln einfließt, so hat sie die Tür für ein hoch riskants Agieren auf See fahrlässigerweise ein wenig geöffnet.