Am 7. März 2023 hat die Regierung in London ein neues Gesetz zur „Verhinderung und Abschreckung illegaler Migration“, insbesondere über „unsichere und illegale Routen“, vorgestellt. Die “Illegal Migration Bill“ ist die insgesamt 43. Initiative der britischen Regierung zur Änderung des Asylrechts in den letzten drei Jahren und der Versuch, das Versprechen des aktuellen Premierministers Rishi Sunak, die Zahl der Migrant*innen, die den Ärmelkanal in small boats überqueren, einzudämmen.
Der Versuch der Labour-Partei den Gesetzesentwurf zu stoppen, scheiterte am 13. März mit einer Mehrheit von 312 Abgeordneten, die für das Vorhaben stimmten, und 249 Gegenstimmen. Bevor der Entwurf jedoch rechtskräftig wird, müsste er noch drei weitere Lesungen im Unterhaus und fünf Lesungen im Oberhaus des Parlaments durchlaufen.
Mit dem jetzt vorgelegten Gesetz soll laut der britischen Regierung verhindert werden, dass Menschen „illegal“ in das Vereinigte Königreich einreisen, wie schnell aus dem Entwurf hervorgeht. So heißt es direkt auf der ersten Seite:
„Zweck dieses Gesetzes ist die Verhinderung und Abschreckung von unrechtmäßiger Migration, insbesondere von Migration auf unsicheren und illegalen Wegen, indem bestimmte Personen, die unter Verstoß gegen die Einwanderungskontrolle in das Vereinigte Königreich einreisen oder dort ankommen, aus dem Vereinigten Königreich abgeschoben werden müssen.“ (übersetzt aus dem Englischen)
Klausel 1(1) der Illegal Migration Bill
Was genau sieht der Gesetzesentwurf vor ?
Ausschlus aus dem Asylsystem und Abschiebungen
Nach dem Gesetzentwurf sollen alle „illegal“ eingereisten Personen abgeschoben werden können, wofür die britische Regierung die Erfüllung der folgenden vier Kriterien vorsieht (Klausel 2.1):
1. Die Person ist unter Verstoß gegen die Einwanderungsgesetze eingereist, hatte also keine Einreisegenehmigung;
2. sie ist am oder nach dem 7. März 2023 in das Vereinigte Königreich eingereist oder dort angekommen;
3. sie ist durch einen sicheren Drittstaat gereist; und
4. sie benötigt eine Einreise- oder Aufenthaltsgenehmigung, hat diese aber nicht.
Sollte der Gesetzentwurf in Kraft treten, würden alle Menschen, die auf small boats nach Großbritannien kommen, als „illegal“ eingestuft werden, was ihnen das Recht verwehrt, in Großbritannien Asyl zu beantragen. Außerdem treffen die Kriterien auf Menschen zu, die auf andere Weise, etwa versteckt in einem Lastwagen, nach Großbritannien einreisen.
Die britische Regierung sieht nun vor, die betroffenen Menschen in ihre Herkunftsländer oder einen sicheren Drittstaat abzuschieben. Vorübergehende Ausnahmen dieser Maßnahme sollen auf unbegleitete minderjährige Geflüchtete und auf extrem gefährdete Menschen zutreffen. Alle weiteren Einwände gegen eine Abschiebung könnten erst nach einer erfolgten Rückführung erhoben werden. Dies würde bedeuten, dass eine Person abgeschoben werden könnte, ohne dass geprüft wurde, ob eine solche Abschiebung ihre Menschenrechte verletzen würde.
Die Durchführbarkeit der Abschiebungen in sichere Drittstaaten bleibt jedoch fraglich, auch weil eine endgültige Entscheidung über den Ruanda-Deal noch aussteht und ungewiss ist, ob oder wann und wieviele Menschen überhaupt nach Ruanda abgeschoben werden könnten. In den vergangenen Monaten erklärte die Regierung allerdings, dass sie am Abkommen mit Ruanda festhalten und ähnliche Vereinbarungen mit anderen Staaten abschließen wolle.
Abschiebehaft
Eine weitere Befugnis der Illegal Migration Bill ist die 28-tägige Inhaftierung von Menschen, die im Sinne des Gesetzesentwurfs als „illegal“ gelten und somit der Abschiebepflicht unterliegen. Der Gesetzentwurf würde zudem die rechtliche Anfechtbarkeit der Abschiebehaft einschränken.
„In Bezug auf die Inhaftierung während des relevanten Zeitraums ist die Entscheidung endgültig und kann vor keinem Gericht in Frage gestellt oder aufgehoben werden.“ (übersetzt aus dem Englischen)
Klausel 13(4) der Illegal Migration Bill
Aussetzung des Schutzes vor moderner Sklaverei
Die faktische Einstufung von allen mit small boats oder versteckt in einem Lastwagen ankommenden Menschen als „illegal“ geht laut dem Gesetzesentwurf nicht nur mit dem Absprechen des Asylrechts, dem Vollzug von Pflichtabschiebungen und einer vierwöchigen Internierung einher. Das neuen Gesetz soll explizit auch für Opfer von moderner Sklaverei gelten und würde damit die bisher geltenden Schutzmaßnahmen diese Personengruppe außer Kraft setzen. Die Berufung auf die Schutzregelungen für Opfer moderner Sklaverei hat im britischen Migrationsrecht eine hohe Bedeutung und wird von konservativen Kräften als ein vermeintliches Einfallstor angeprangert.
Es stellt sich jedoch die Frage der rechtlichen Vereinbarkeit einer solchen Neuregelung mit der Konvention zur Bekämpfung des Menschenhandels, ein rechtlich verbindliches Instrument des Europarats, welches das Vereinigte Königreich unterzeichnet hat.
Gesetzentwurf und Europäische Menschenrechtskonvention
Bemerkenswert ist, dass die britische Innenministerin nicht formell bestätigen will, dass das geplante Gesetz aus ihrer Sicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention in Einklang stünde. Eine solche Bewertung muss das Innenministerium für jeden Gesetzentwurf vornehmen. In der Regel wird er direkt als konform bewertet oder aber an den vom Innenministerium als problematisch identifizierten Punkten korrigiert. Das vom britischen Innenministerium gewählte Vorgehen der Nichtbestätigung, ohne dabei das Gesetzgebungsverfahren zu unterbrechen, bezeichnet ein ehemaligen Parlamentsjurist im Guardien als “großes rotes Blinklicht”. Auf der juristischen Ebene hat es zur Folge, dass das Gesetz mit Blick auf Menschenrechtsfragen vor einem britischen Gericht zwar angefochten werden kann, aber von diesem vor einer für den Klagenden positiven Entscheidung dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgelegt werden würde.
Ob das Vorgehen aus Sicht der britischen Regierung prozesstaktisch geschickt gewählt ist, lässt sich nur schwer abschätzen. Politisch konterkariert es die Aussage des britischen Premiers auf dem französisch-britischen Gipfel, Großbritannien werde immer seinen internationalen vertraglichen Verpflichtungen nachkommen, aber man sei überzeugt, man könne “in ihrem Rahmen das tun, was erforderlich ist, um dieses gemeinsame Problem zu lösen – und die Boote zu stoppen”. Aus Sicht der Konservativen könnte das allerdings ein geringer Preis dafür sein, im Falle eines Scheiterns des Gesetzes nach Straßburg statt auf ein eigenes Gericht zeigen zu können.
Kritik an der Illegal Migration Bill
Neben der linken und liberalen Öffentlichkeit blicken zahlreiche Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen kritisch auf den neuen Gesetzentwurf. In zahlreichen britischen Städten protestierten den Organisator*innen zufolge tausende Menschen gegen den Gesetzentwurf und für Solidarität mit Menschen auf der Flucht. Auch die im nordfranzösischen Grenzgebiet tätigen Organisationen bewerteten den Gesetzesentwurf als katastrophal.
Darüber hinaus äußerte sich der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) „zutiefst besorgt” über das neue Gesetz. Hinsichtlich der Absenz von sicheren und “legalen” Routen für die meisten Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, sei es unhaltbar, Menschen den Zugang zu Asyl auf dieser Grundlage zu verweigern. Darüber hinaus verwies der UNHCR auf Daten des britischen Innenministeriums, wonach die überwiegende Mehrheit der Menschen, die in small boats den Ärmelkanal nach Großbritannien überqueren, als Flüchtlinge anerkannt würden, wenn ihr Antrag geprüft würde.
“Die Gesetzgebung würde, wenn sie verabschiedet wird, auf ein Asylverbot hinauslaufen – das Recht, im Vereinigten Königreich um Flüchtlingsschutz zu ersuchen, würde für diejenigen, die irregulär einreisen, ausgelöscht, ganz gleich, wie zwingend ihr Antrag sein mag. Der Gesetzesentwurf (in dieser Form) würde dazu führen, dass vielen echten Flüchtlingen, die Sicherheit und Asyl benötigen, eine faire Anhörung verweigert wird und sie keinen Schutz erhalten.“ (übersetzt aus dem Englischen)
UNHCR, 7. März 2023
Eine absehbare Krise
Spielen wir den möglichen weiteren Verlauf einmal durch: Das Gesetzgebungsverfahren der Illegal Migration Bill könnte zum Sommer hin abgeschlossen sein. Eine Infrastruktur zur Internierung der Channel migrants müsste bis dahin geplant, errichtet und in Betrieb genommen werden. Das Ende Januar eingerichtete Small Boats Operational Command – eine für die Umsetzung der geplanten Agenda wichtige Koordinationsstelle – ist erst im Aufbau begriffen und dürfte erst dann in vollem Umfang arbeitsfähig sein, wenn die Bootspassagen mit Beginn der kalten Jahreszeit ihre riskanteste Phase durchlaufen, um danach zurückzugehen.
Für Abschiebungen in großem Umfang bestehen nicht die erforderlichen Abkommen mit den kontinentaleuropäischen Nachbarstaaten. Auch im Rahmen des britisch-französischen Gipfels am 10. März, wenige Tage nach Vorlage der Illegal Migration Bill, erreichte Sunak weder das bereits von seinen Vorgänger*innen eingeforderte Rücknahmeabkommen mit Frankreich, noch ist eine entsprechende Vereinbarung mit der EU in Aussicht. Eine Ausnahme bildet lediglich Albanien, dessen Staatsangehörige im vergangenen Jahr hohe mediale Aufmerksamkeit erfuhren und zur größten Herkunftsgruppe unter den Channel migrants wurden, aber dennoch nicht ihre Mehrzahl bilden. Der Plan, Bootspassagier*innen massenweise in Vertragsstaaten des Globalen Südens, die weder Herkunfts- noch Transitländer sind, zu deportieren, ist bislang gescheitert: Der im April 2022 geschlossene Migrationsdeal mit Ruanda dürfte, wenn überhaupt, nur für eine kleine Zahl von Menschen umsetzbar sein. Analoge Abkommen mit weiteren Staaten gibt es zwar in der konservativen Rhetorik, nicht aber in der Realität.
Was bedeutet dies? Natürlich ist die Aussicht auf Ausschluss aus dem Asylsystem, mehrwöchige Internierung und eine mögliche Abschiebung nach Ruanda abschreckend. Aber die Erfahrung der vergangenen Jahre lehrt, dass bislang keine Maßnahme dieser Art eine Stagnation oder gar einen Rückgang der Bootspassagen bewirkt hat.
Nehmen wir hingegen an, dass annähernd so viele small boats übersetzen werden wie im vergangenen Jahr, so werden ihre Passagier*innen – sollte das neue Gesetz im Sommer wirksam werden – voraussichtlich in einem halbfertigen System von Internierungslagern festgehalten werden. Da die Regierung kaum in die Lage kommen dürfte, sie in großer Zahl nach Ruanda, in einen anderen Vertragsstaat, in die EU oder nach Frankreich abzuschieben, dürfte sich ein Großteil der betroffenen Menschen danach in einem rechtlichen Niemandsland wiederfinden – nicht mehr interniert, aber dennoch in limbo. Vor diesem Hintergrund ist eine politische und menschenrechtliche Krise absehbar, wie sie ansatzweise bereits in den überfüllten Aufnahmeeinrichtungen von Folkestone (Napier Barracks) und Manston bestand, die vor dem Hintergrund des aktuellen Gesetzesentwurfs wie Blaupausen wirken. Die im Februar 2023 radikalisierten Proteste rassistischer und rechter Gruppen, die leicht an die aggressive antimigrantische Rhetorik der Regierung andocken können, werden sich parallel dazu verstärken.
Wenn im kommenden Jahr der Wahlkampf um das Unterhaus beginnt, wird der Illegal Migration Act möglicherweise also vor allem Kollateralschäden verursacht haben. Wenn sich die Situation also, wie zu erwarten, krisenhaft zuspitzen wird, so bereitet das einer populistischen Wahlkampfkampagne gegen die small boats den Boden. Die Schlauchboote erweisen sich mehr und mehr als neuer Fetisch der Post-Brexiteers.