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Channel crossings & UK

Das Schiff Bibby Stockholm

Ein antimigrantisches Symbol wird Teil der britischen Grenzpolitik

Darstellung der Bibby Stockholm auf der Website der Eigentümerfirma. (Quelle: Bibby Marine)

Das Schiff Bibby Stockholm ist eine Art transportabler Wohnblock, in dem in den vergangenen Jahrzehnten wechselweise Asylsuchende, Abschiebehäftlinge und Arbeiter_innen maritimer Baustellen lebten. In Deutschland erlangte das Schiff in den 1990er-Jahren eine fragwürdige Bekanntheit, als es als Massenunterkunft in Hamburg diente. Aufgrund seiner Geschichte kann das Schiff als ein migationspolitisches Symbol gelesen werden: Nicht mehr auf See, aber noch nicht an Land, symbolisierte einen Aufenthalt ohne Ankommen, ein Leben unter Vorbehalt. In einigen Monaten soll das Schiff nun im südenglischen Hafen Portland Geflüchtete beherbergen. Die Maßnahme ist Teil einer massiven Verschärfung der britischen Grenz- und Asylpolitik, die sich gezielt gegen Menschen richtet, auf Schlauchbooten nach Großbritannien gelangen und von einem Asyl auf britischem Boden radikal ausgeschlossen werden sollen.

Die Ankündigung der Regierung

Die britische Regierung gab am 5. April 2023 bekannt, dass sie die Bibby Stockholm für die Unterbringung von Geflüchteten nutzen wolle. Bereits zuvor hatte London erste Standorte für lagerartige Unterkünfte benannt, die an die Stelle der bislang gängigen Unterbringung in Hotels treten sollen. Genannt wurden zunächst drei frühere Militäranlagen. Britische Medien spekulierten außerdem über die mögliche Unterbringung auf Schiffen und verwiesen in diesem Zusammenang auf einen nicht näher konkretisierten Hafen in der Grafschaft Dorset (siehe hier). Letzteres hat sich nun bestätigt: Die Bibby Stockholm soll im Hafen von Portland angedockt werden. Dieser gehört zu Dorset und befindet sich am Ärmelkanal gegenüber der Normandie.

Wichtigste Quelle für das Vorhaben ist ein Fact sheet der britischen Regierung vom 5. April. Darin heißt es, dass die Bibby Stockholm als „Unterbringungsbarke“ (accomodation barge) dienen soll. Dass es um Menschen geht, die aus Nordfrankreich per Schlauchboot eingereist sind, wird nicht expressis verbis gesagt, ergibt sich aber aus der Begründung und dem politischen Kontext. Konkret heißt es, dass die Bibby Stockholm „in den kommenden Monaten“ nach Portland gebracht werde und „zunächst 18 Monate“ dort bleiben soll. Vorgesehen sei die Unterbringung von etwa 500 „alleinstehenden erwachsenen männlichen Asylbewerbern“ unterschiedlicher Herkunft und Nationalität, die „sich bereits im Asylverfahren befinden, nachdem sie eine erste Überprüfung und Kontrolle durchlaufen haben“ und ihre Fingerabdrücke erfasst worden seien. Eine Unterbringung vulnerabler Personen sei nicht geplant.

Vorgesehen ist – wie auch bei den früheren Militärstandorten – eine Unterbringungsform, die lediglich minimale humanitäre Standards erfüllt: „Die Unterbringung und die Einrichtungen an Bord werden so konzipiert, dass die grundlegenden Bedürfnisse der dort untergebrachten Personen erfüllt werden – dazu gehören medizinische Versorgung, Verpflegungsmöglichkeiten und Sicherheit rund um die Uhr.“ Die Rede ist von „robuste Verfahren, um die Bedürfnisse der auf dem Schiff untergebrachten Personen zu bewerten und zu verwalten“ (robust processes […] to assess and manage the requirements of anyone accommodated on the vessel). Bereits diese Formulierungen lassen die Absicht erkennen, einem hermetischen Ort zu schaffen: „Der Standort ist in sich geschlossen (self-contained), aber die dort lebenden Menschen können kommen und gehen, wie sie wollen“, und an anderer Stelle heißt es: „Das Schiff wird so konzipiert, dass die Auswirkungen auf die lokalen Gemeinschaften und Dienste so gering wie möglich gehalten werden, z. B. durch Verpflegungsmöglichkeiten an Bord und eine medizinische Grundversorgung“. Wer nach 23 Uhr nicht an Bord ist, soll vom Personal der Unterkunft angerufen werden, „um sich nach seinem Wohlergehen zu erkundigen.“ Es liegt auf der Hand, dass solche Verfahren nur bei einem hohen Grad an Kontrolle praktikabel sind.

Vieles ist noch vage. So wird auf die Zusammenarbeit mit der lokalen Polizei und einem lokalen Transportdienstleister verwiesen, auch sollen lokale NGOs für Tätigkeiten ab Bord gewonnen werden. Der Management der Einrichtung soll einem privaten Anbieter überlassen werden, der bereits zwei Schiffe der schottischen Regierung für ukrainische Gefüchtete betreut habe, die im britischen Migrationssystem allerdings privilegiert behandelt werden, sodass sich der Umgang mit ihnen nicht mit den Channel migrants gleichsetzen lässt.

Insgesamt fügt sich das zitierte Fact sheet in die asylpolitische Agenda der Regierung ein: Die in dieser Form erstmals praktizierte Form der Unterbringung soll die Betroffenen absondern, kontrollieren und abschrecken. „Letzte Woche sagte der stellvertretende Premierminister Dominic Raab, dass ‚nichts vom Tisch‘ sei, wenn es darum gehe, die Nutzung von Hotels zur Unterbringung von Asylbewerbern zu reduzieren, und er betonte, dass diese als ‚Anreiz‘ für die Überfahrt mit kleinen Booten gedient hätten“, schrieb der Guardian am 3. April. Wörtlich habe Raab erklärt: „Die Idee, dass man auf das illegale Boot eines Gangsters steigen kann, um in dieses Land zu gelangen, und dann in einem Hotel untergebracht wird, wird ein Ende haben.“

Das Schiff wird sich also in ein im Aufbau befindliches Lagersystem einfügen. Aber das ist nicht alles. Denn sollte der momentan in der parlamentarischen Beratung befindliche Entwurf eines Gesetzes gegen „illegale Einwanderung“ (Illegal Immigration Bill) in Kraft treten, werden alle, die auf Schlauchbooten oder auf andere Weise undokumentiert aus einem EU-Staat nach Großbritannien einreisen, mindestens vier Wochen lang inhaftiert werden und danach keinen Zugang zu Asyl erhalten, sondern zwingend abgeschoben werden (was in vielen Fällen jedoch nicht möglich sein wird). Die Unterbringung ankommender Channel migrants würde sich also automatisch in eine Gefangenschaft verwandeln und es ist absehbar, dass sich ein Teil der momentan geschaffenen Großunterkünfte dann in Haftstätten verwandeln dürfte. Nicht auszuschließen ist daher, dass sich nach dem geplanten Gesetz auch die Tür der Bibby Stockholm schließen könnte.

Das Schiff

Schematische Darstellung der Bibby Stockholm in einem Video der Eigentümergesellschaft. Quelle: Bibby Marine / You Tube)

Die Bibby Stockholm (IMO-Kennung 8869476) ist eine schwimmende Plattform, die vollständig von einem dreistöckigen grau-roten Wohnblock mit zwei Innenhöfen ausgefüllt wird. Nach Angaben des Eigentümers ist die Plattform 93,5 mal 27,5 Meter groß, maritime Infoportale geben eine etwas geringere Länge von 91 Metern an. Das 1976 gebaute Schiff wurde 1992 in ein Wohnschiff umgebaut und hieß zeitweise Floatel Stockholm und Dino I. Es gehört der in Liverpool ansässigen Firma Bibby Marine Ltd., ist im Hafen von Bridgetown in Barbados registriert und soll momentan im Hafen von Genua vor Anker liegen oder gelegen haben.

Ein von der Firma erstelltes Datenblatt vermittelt einen Eindruck vom Inneren des Schiffes, in dem 222 Kabinen so platzsparend wie möglich angeordnet sind:

Grundriss der Bibby Stockholm, dargestellt in einem Datenblatt des Eigentümers (Quelle: Bibby Marine)

Aus demselben Datenblatt ergibt sich, dass das Schiff für die Unterbringung von 222 Personen – je eine Petson pro Einbett-Kabine – ausgelegt ist. Die geplante Unterbringung von etwa 500 Menschen ist also nur möglich, wenn die Kabinen doppelt belegt werden. Entsprechend passte die Firma ihre Website an und spricht von „bis zu 506 Gästen“ bei derselben Anzahl von 222 Schlafräumen.

Angebliches Luxusleben an Bord: Darstellung der Bibby Stockholm auf der Website des Eigentümers (Quelle: Bibby Marine, Screenshot: 9. April 2023)

Die Eigendarstellung der Firma erweckt den Eindruck eines geordneten und komfortablen Lebens: Luxury living on board lautet die Überschrift, unter der die Firma ihr Schiff präsentiert. Trotz des Gegensatzes zur Tristesse und Enge, die aus den beigefügten Fotos und dem Grundriss des Schiffes spricht, griff etwa das Boulevardblatt Daily Mail den Slogan explizit auf und befeuerterte die antimigrantische Kampagne der britischen Rechten durch die Suggestion, auf die vermeintlich luxuriöse Unterbringung in Hotels würde nun ein Luxusleben an Bord folgen.

Seit ihrem Umbau zu einem Wohnschiff wurde die Bibby Stockholm hauptsächlich zu zwei Zwecken eingesetzt: Zum einen diente sie als Arbeiterunterkunft beim Bau einer Gasanlage auf den Shetland-Inseln (2013 bis 2017) und eines Windparks beim nordschwedischen Piteå (2018/19). Bekannter war sie der Öffentlichkeit jedoch als schwimmende Unterkunft für Geflüchtete in Deutschland und Haftstätte in den Niederlanden.

Massenunterkunft in Hamburg und Abschiebegefängnis in Rotterdam

In Deutschland wurde die Bibby Stockholm – zeitweise unter dem Namen Floatel Stockholm – bekannt, als Hamburg zu Beginn der 1990er-Jahre Gefüchtete auf mehreren Wohnschiffen unterbrachte. Die Maßnahme durchlief mehrere Phasen. So waren bis zu vier Schiffe an unterschiedlichen Standorten eingesetzt, und auch der Zweck der Unterbringung und die behördlichen Strukturen wechselten. Zusammen mit dem baulich und optisch ähnlichen, jedoch um ein Stockwerk höheren Schwesterschiff Floatel Altona wurde die Bibby Stockholm erst Mitte der Nullerjahre aus Hamburg abgezogen.

Video der Hamburger Initiative Wohnschiffprojekt, das auf den Schiffen untergebrachte Kinder betreute. Die Bibby Stockholm ist mehrfach zu sehen. (Video: Marily Stroux)

Dokumentationen und Medienberichte über die Hamburger Zeit verdeutlichen, dass das Schiff zeitweise stark überbelegt war und die Bewohner_innen, unter ihnen auch Familien und Kinder, aus bis zu 40 Herkunftsländern kamen. Eine frühere Bewohnerin sagt in einem rückblickenden Fernsehbericht, dass sie die Zeit auf dem Schiff als Albtraum erlebt habe. Die Hamburger AntiLager-Gruppe sagte damals in einem Interview: „Politisch und auch ganz persönlich für jeden Flüchtling bedeutete die Unterbringung auf einem Schiff nicht nur unzumutbare ‚Wohn‘-Bedingungen mit räumlicher Enge, Zwangsverpflegung und allgegenwärtiger Kontrolle, sondern auch die Botschaft: ‚Du bist gar nicht richtig (an Land) angekommen und sollst es am besten auch gar nicht!‘ Rechtlich wurde die Situation noch erheblich verschärft, indem die Ausländerbehörde permanenten Zugriff auf die Flüchtlinge bekam und sich für die meisten die Verweildauer auf dem Schiff verlängerte, bei manchen bis zur Abschiebung.“

Nach ihrem Einsatz in Hamburg wurde die Bibby Stockholm in den Rotterdamer Mervehaven geschleppt und als Haftschiff (detentieboot) zum Vollzog der Abschiebehaft genutzt. Laut einem nach kritischen Medienberichten 2006 vorgelegten Inspektionsreport des niederländischen Justizministeriums war das Schiff ab Januar 2005 schrittweise in Betrieb genommen und seine Kapazität auf 472 Plätze erhöht worden, was 16 % der Abschiebegefangenen des Landes entsprach. Die Unterbringung sei in Mehrbettzimmern mit zwei, vier oder sechs Betten erfolgt. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer lag bei 102 Tagen, doch waren auch Haftdauern von mehr als einem halben Jahr keineswegs selten, in Einzelfällen blieben Menschen mehr als ein Jahr auf dem Schiff gefangen. Wichtig in unserem Kontext ist, dass der Bericht die „karge Ausstattung“ des Schiffs benannte und die Ansicht vertrat, dass das Schiff lediglich für eine kurze Haftdauer geeignet sei (S. 45).

Das baugleiche Schiff Bibby Kalmar als niederländisches Abschiebegefängnis. Titel einer Untersuchung von Amnesty International, 2008.

Zwei Jahre später kritisierte Amnesty International die niederländische Praxis, Schiffe als Abschiebehaftanstalten zu nutzen, scharf. Dabei ging es auch um die Bibby Stockholm und ein weiteres Schwesterschiff namens Bibby Kalmar, das in dieser Phase als Abschiegefängnis in Dodrecht eingesetzt und von einem eigens konstruierten Käfig umgeben war. Im Juni 2007 forderte das Anti-Folter-Komitee des Europarats in seinem Niederlande-Bericht, „dass die Boote ‚Kalmar‘ und ‚Stockholm‘, die für die Inhaftierung irregulärer Migranten verwendet werden, für eine längere Inhaftierung ungeeignet sind und so schnell wie möglich außer Dienst gestellt werden sollten.“

Die Bibby Stockholm lässt sich als eine transportable Infrastruktur begreifen, die seit drei Jahrzehnten immer wieder für migrationspolitische Zwecke gechartet wurde. Als Teil einer kleinen Anzahl ähnlicher und mitunter sogar baugleicher Schiffe war sie an wechselnden Schauplätzen binneneuropäischer Migrationspolitik präsent. Mit ihr fügt die britische Regierung also einen Baustein in ihre Kampagne gegen die Menschen auf der Kanalroute ein, der ein Symbol antimigrantischer Maßnahmen ist und es nach den achtzehn Monaten in Portland wohl in verstärktem Maße sein wird. Die Bibby Stockholm funktioniert auch als eine Drohung.

Update: Die Bibby Stockholm traf am 9. Mai 2023 im englischen Falmouth (Cornwall), wo vor der Weiterfahrt nach Portland zunächst Inspektions- und Instandsetzungsarbeiten durchgeführt werden.