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Steuern und Töten

Über die Anklage eines Überlebenden der tödlichen Havarie am 14. Dezember 2022

Ärmelkanal bei Calais. (Foto: Th. Müller)

Gegen Ibrahima Bah, einen 19 Jahre alten Überlebenden der tödlichen Havarie am 14. Dezember 2022, ist in Großbritannien zum zweiten Mal Anklage erhoben worden. Bezog sich die erste Anklage auf den Vorwurf der Beihilfe zur „illegalen“ Einreise, so steht der junge Mann nun wegen manslaugter (Totschlag) vor Gericht. Der Vorwurf stützt sich allein darauf, dass er das havarierte Boot gesteuert haben soll. Der Fall reiht sich damit in eine zweifelhafte Praxis europäischer Strafverfolgungsbehörden ein.

Die genauen Umstände der Havarie sind bislang ebensowenig klar wie die genaue Anzahl und die Identität der Opfer.

Fest steht, dass die französische Organisation Utopia 56 am 14. Dezember kurz vor 3 Uhr einen Notruf erhielt und die Positionsdaten des in Seenot geratenen Schlauchboots zunächst der zuständigen französischen Leitstelle und etwa eine Viertelstunde später nochmals den Leitstellen beider Staaten sowie dem Alarm Phone übermittelte. Offenbar veranlasste die französische Leitstelle recht bald eine Beobachtung des in Not geratenen Bootes, löste aber keine Such- und Rettungsoperation aus. Die französische Seepräfektur begründete das Vorgehen nachträglich mit dem Verweis auf eine Untiefe, über die hinweg sich das Schlauchboot auf britische Hoheitsgewässer zubewegt habe. Eine knappe Stunde nach dem ersten Notruf startete ein Rettungsschiff von der britischen Küste aus, traf allerdings erst bei dem havarierten Boot ein, als ein zufällig anwesender Fischer bereits die Bergung durchführte und das Geschehen filmte. 39 Personen konnten so gerettet werden. Aus Sicht des Alarm Phone wirft der Fall Fragen nach Defiziten bei der Zusammenarbeit der Leitstellen beider Staaten auf (siehe hier und hier).

Bei der Havarie starben mindestens vier Menschen. „Obwohl bereits 30 Tage vergangen sind, wissen wir immer noch nichts über die vier Todesopfer. Wie lauteten ihre Namen? Woher kamen sie? Wie alt waren sie? Wissen ihre Familien, was passiert ist?“, schrieb Alarm Phone am 14. Januar 2023.

Unklar ist zudem, wie viele Personen überhaupt an Bord waren und wieviele vermisst werden, was angesichts der niedrigen Wassertemperaturen und der großen Distanz zur Küste dem Tod gleichkommt. Knapp zwei Wochen nach der Havarie fürchtete die Polizei von Kent, dass bis zu sechs Passagier_innen auf See vermisst seien. Es könnten also im schlimmsten Fall zehn Menschen gestorben sein.

Auch heute, mehr als vier Monate nach der Havarie, dauern die Ermittlungen an und sind bislang ohne substanzielle Ergebnisse. Nach Medienberichten geht die Polizei von Kent inzwischen davon aus, dass je zwei der vier Toten aus Afghanistan und Senegal kamen.

Ibrahima Bah wurde bereits kurz nach der Havarie inhaftiert. Wie BBC berichtet, plädierte er am 19. Dezember 2022 vor dem Folkestone Magistrates‘ Court auf „nicht schuldig“ im Sinne der Beihilfe zur versuchten „illegalen“ Einreise nach Großbritannien. Alarm Phone weist darauf hin, dass der junge Mann vor Gericht gesagt habe, „er wisse nicht, was mit ihm geschehe“. Am 16. Januar 2023 folgte die Anklage vor dem Canterbury Crown Court, dem erstinstanzlichen Strafgericht, das einen weiteren Verhandlungstermin für den 26. Juni 2023 ansetzte. „Im Falle einer Verurteilung droht ihm eine lebenslange Haftstrafe wegen ‚Beihilfe‘ zur illegalen Einreise in das Vereinigte Königreich“, so Alarm Phone. Das drakonische Strafmaß gründet sich auf die 2022 von der Regierung Johnson durchgesetzte Verschärfung des Einwanderungsrechts.

Am 13. April 2023 folgte vor dem Folkestone Magistrates‘ Court zusätzlich die Anklage wegen Totschlags (manslaughter) in vier Fällen, nämlich an den vier Todesopfern der Havarie. Auch hier bezieht sich die Anklage auf den Vorwurf, der junge Mann habe am Steuer des Schlauchboots gesessen. Die Verhandlung vor dem Canterbury Crown Court ist vorläufig auf den 15. Mai 2023 terminiert.

Der Fall reiht sich in eine Reihe vergleichbarer Strafverfahren ein, bei denen das Steuern eines Bootes zu einem Akt der Schleusung oder sogar Tötung uminterpretiert wird. Opfer der Grenzpolitik werden dabei in Täter_innen verkehrt, so als sei der Tod auf See eine Tat von Geflüchteten an Geflüchteten. Ignoriert wird nicht nur, dass zwischen Steuern und Töten ein grundsätzlicher Unterschied besteht, denn am Ruder eines Schlauchboots zu sitzen, bedeutet Verantwortung für das eigene Überleben und das Leben der anderen Passagier_innen zu tragen. Steuern und Töten schließen einander aus, zumal die Steuerleute in vielen Fällen nicht freiwillig diese Rolle übernommen haben, sondern von Schleuser_innen gedrängt oder sogar gezwungen wurden. Mit Ibrahima Bah ist nun erstmals auch ein Geflüchteter vom Ärmelkanal mit diesem Konstrukt konfrontiert. Die Auswirkungen, die dies auch jenseits der juristischen Ebene auf seinen Lebensweg haben wird, lassen sich allenfalls erahnen.

Aktivist_innen von Utopia 56, die am 14. Dezember 2022 den Notruf enthielten und die letztlich unzureichenden Rettungsaktivitäten in Gang setzten, solidarisierten sich bereits im Dezember mit Ibrahima Bah: Er stehe vor Gericht, „weil er sein Leben in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft riskiert hat. Die Nichtaufnahme [von Geflüchteten] und das Fehlen sicherer Passagen sind und bleiben die wahren Schuldigen für dieses Drama.“ Auch Alarm Phone wies in der oben zitierten Erklärung auf mögliche Defizite und Versäumnisse der Leitstellen hin, aus denen eine Mitverantwortung für die Havarie resultieren könne.

Neben dieser politischen Dimension hat die Kriminalisierung der Steuerleute einen unmittelbaren Effekt, der katastrophale Auswirkungen haben kann. Marta Gionco, Referentin bei der Internationalen Koordinationsplattform für papierlose Migrant_innen PICUM (Plateforme de coordination internationale pour les migrants sans-papiers), sagte dem französischen Onlinemedium InfoMigrants: „Manchmal sieht man Menschen, die das Steuer des Bootes loslassen, wenn Hilfe kommt. Oder sich vom Motor entfernen, um nicht als Schleuser identifiziert zu werden. Diese Bewegungen sorgen für noch mehr Ungleichgewicht auf den Booten und bringen das Leben aller in Gefahr.“ Genau das ist der Punkt.

Wenn die Drohung mit lebenslanger Haft der Abschreckung dient, so ist der in Kauf genommene Preis extrem.