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Anklage gegen Bedienstete der Leitstelle wegen tödlicher Havarie 2021

[Mit einbem Update] Wie die Nachrichtenagentur AFP berichtete, sind fünf Angehörige des französischen Militärs im Zusammenhang mit der bislang schlimmsten Havarie eines Schlauchboots auf dem Ärmelkanal angeklagt worden. Den drei Frauen und zwei Männern wird unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen. Sie hatten zum Zeitpunkt der Katastrophe in der Nacht vom 23. auf den 24. November 2021 Dienst in der Leitstelle CROSS Gris-Nez (Centre régional opérationnel de surveillance et de sauvetage Gris-Nez), die für die Seenotrettung in diesem Teil des Ärmelkanals zuständig ist. In der Nacht vergingen rund zehn Stunden, in denen trotz wiederholter Notrufe keine Rettung veranlasst wurde. Schließlich entdeckte ein Fischer zufällig die Leichen von 27 Menschen. Tatsächlich verloren 31 Menschen ihr Leben, lediglich zwei Männer überlebten.

Utopia 56 zur Anklage gegen die Bediensteten der Leitstelle, 25. Mai 2023 (Quelle: Utopia 56 / Twitter)

Die beiden Überlebenden sagten einem kurdischen Sender kurz nach der Havarie, dass sie wiederholt die französischen und britischen Leitstellen kontaktiert hätten, ohne dass eine Rettungsaktion erfolgte (siehe hier). Ein Jahr nach der Havarie belegten Ermittlungen der französischen Strafverfolgungsbehörden, so Le Monde, dass bei CROSS Gris-Nez etwa 15 Notrufe des havarierten Bootes eingegangen seien. Diese wurden jedoch nicht ernst genommen und offenbar sogar verspottet. Die Leitstelle ihrerseits verwies auf die große Zahl an Überfahrten in der betreffenden Nacht sowie auf einen Mangel an Ressourcen, der eine Priorisierung von Rettungseinsätzen erfordere.

Auch die britische Seite trifft eine Mitschuld an der Katastrophe, wie u.a. der Guardian kürzlich dokumentierte. Offenbar spielte dabei eine Praxis des Drift back eine Rolle, also das Verzögern einer notwendigen Rettungsoperation in Erwartung eines Zurückdriftens des in Seenot geratenen Bootes über die Grenze (siehe hier).

Aufgrund dieser komplexen Situation wurde die Havarie Gegenstand mehrerer Ermittlungen und Strafverfahren in beiden Ländern. Diese richte(te)n sich sowohl gegen Angehörige der Schleuserorganisation, als auch gegen das Personal der Leitstellen.

Die aktuellen Anklagen beziehen sich ausschließlich auf das Fehlverhalten von Bediensteten des CROSS Gris-Nez, denen nun vorgeforfen wird, Personen in Gefahr keine Hilfe geleistet zu haben. Wie AFP am 25. Mai 2023 aus Justizkreisen erfuhr, wurden zunächst etwa zehn Personen in Polizeigewahrsam genommen und durch die Gendarmerie maritime von Cherbourg befragt. Die fünf angeklagten Soldat_innen wurden durch den Untersuchungsrichter auf freien Fuß gesetzt.

[Update, 4. Juni 2023]

Am 1. Juni 2023 wurde Anklage gegen zwei weitere Militärangehörige erhoben. Der Nachrichtenagentur AFP zufolge waren sie an Bord eines französischen Marineschiffs, das sich relativ nah bei dem havarierten Schlauchboot befunden haben soll. Insgesamt sind in diesem Kontext nun sieben französische Soldat_innen angeklagt (siehe InfoMigrants).