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Calais Channel crossings & UK

Zuspitzungen am Strand

[Mit einem Update] Berichte französischer Medien und zivilgesellschaftlicher Organisationen deuten darauf hin, dass die Situation an den nordfranzösischen Ablegestränden der Schlauchboote im Frühjahr 2023 gewalttätiger geworden ist. Da sich das Geschehen jedoch größtenteils bei Nacht und außerhalb der Öffentlichkeit abspielt, liegen nur fragmentarische Informationen vor. So wurden mehrere Fälle bekannt, bei denen Einsatzkräfte Boote nicht mehr nur unbrauchbar machten, sondern zudem in Brand setzten (siehe hier). Ein aktueller Fall gibt weitere Einblicke in dieses für Außenstehende unsichtbare Feld der Grenzpolitik. Er ist auch ein Indiz dafür, dass die Gendarmerie den Konflikt um das Ablegen der Boote zum Anlass nimmt, ihre eigene Stärke zu demonstrieren – und die Situation damit wohl nur noch weiter zuspitzt.

Der aktuelle Fall ereignete sich, wie die Lokalzeitung La Voix du Nord unter Berufung auf die Gendarmerie berichtet, am 25. Mai 2023 in Oye-Plage, einer Küstengemeinde östlich von Calais, und zwar im Rahmen einer sogenannten LIIC-Operation (= Lutte contre l’immigration irrégulière clandestine, dt.: Bekämpfung der irregulären klandestinen Einwanderung): „Gegen 7 Uhr pumpten etwa 60 Migranten ein behelfsmäßiges Boot auf und bereiteten sich darauf vor, von der Küste aus in See zu stechen. Zwölf Soldaten [die Gendarmerie ist Teil des Militärs, d.Red.] griffen ein, um das Boot zu ‚neutralisieren‘, bevor es im Wasser landete“. Wie das ‚Neutralisieren‘, also das Unbrauchbarmachen des Boots, konkret vonstatten ging, ist nicht bekannt. Allerdings heißt es, dass ein Exilierter später medizinisch versorgt werden musste, „da er sich bei dem Versuch, in das small boat einzusteigen, eine Schnittwunde am Bein zugezogen hatte.“ Ob die Verletzung im Zusammenhang mit der ‚Neutralisierung‘ steht, ist ebenfalls nicht bekannt.

Während dieses Einsatzes soll es zu einem gewaltsamen Angriff von Exilierten auf Gendarmen gekommen sein. Die Zeitung zitiert den Kommandanten der Gendarmeriekompanie Saint-Omer, Pierre-Felix Martin, mit der Aussage, die Gendarmen seien in einem buggy, also einem kleinen und wendigen Geländewagen, unterwegs gewesen. Das Fahrzeug sei von Exilierten beworfen wurde, woraufhin der Fahrer die Kontrolle verloren habe und der Wagen umgestürzt sei. Laut dem Offizier hätten Gendarmen dadurch am Boden gelegen und seien attackiert worden. Er bezeichnete die Verletzungen als „leicht“. Einer der Soldaten sei infolge einer Verletzung am Kopf fünf Tage dienstunfähig gewesen.

Daraufhin, so der Bericht weiter, seien etwa 70 Verstärkungskräfte der Gendarmerie, der Polizei von Calais und der Grenzpolizei angerückt. Sie nahmen 38 Exilierte fest und verteilten sie unter dem Vorwurf der violences en réunion (Gewaltausübung in einer Versammlung) auf mehrere Gendarmerien des Departements. Wie die Zeitung am folgenden Tag meldete, wurden 34 der 38 Festgenommenen rasch wieder entlassen, jedoch vier in Untersuchungshaft genommen.

Der erwähnte Gendarmerie-Offizier Martin erklärte, es sei in diesem Kontext das erste Mal, dass die Gendarmerie eine so große Zahl von Personen festgenommen habe. Die Zeitung zitiert ihn mit der Begründung: „Seit einigen Monaten werden sie [die Migrant_innen] gegenüber den Ordnungskräften gewalttätiger (…). Man muss sich vorstellen, dass sie durch Länder gereist sind, in denen Krieg herrscht, und dass das für sie die Ziellinie ist. Aber die Aufgabe der Gendarmen, wie auch der Polizisten, ist es, den Start zu verhindern. Sie haben eine Chance von 1:5, auf See zu sterben.“ Das Blatt fügt hinzu: „Mit diesem Schlag will die Gendarmerie ein Zeichen setzen, um den Gewalttätigkeiten und Spannungen ein Ende zu setzen.“ Martins Argumentation lässt das gewaltsame Vorgehen als einen humanitären Akt zur Rettung von Menschenleben erscheinen. Nur: Die Behauptung, einer von fünf Bootspassagier_innen würde sterben, ist völlig aus der Luft gegeriffen. Trotz des Risikos wurde beispielsweise in diesem Jahr noch kein Todesfall auf See bekannt, jedoch drei auf dem nordfranzösischen Festland.

Die zivilgesellschaftliche Organisation Utopia 56 widerspricht der Darstellung der Gendarmerie über die Ereigisse am 25. Mai und beruft sich dabei auf Aussagen von Betroffenen. Demnach habe sich das Boot bereits im Meer befunden, als es beschädigt wurde. „Erst als sie [die Exilierten] an den Strand zurückkehrten, verfolgten die Polizisten sie, und nicht, um sie an der Abfahrt zu hindern.“ Außerdem berichtet Utopia 56 von einem Angriff mit CS-Gas auf die Gruppe von rund 50 Exilierten, „als sie sich in den Dünen befanden“. Die Organisation zitiert einen betroffenen Jugendlichen mit dem Satz: „Dass die Polizisten uns an der Überfahrt hindern, ist ihre Aufgabe. Aber sie respektieren uns nicht und tun uns jedes Mal Gewalt an, das ist nicht normal.“

Utopia 56 dokumentierte noch einen weiteren Vorfall, der sich anscheinend kurz danach abspielte: „Am selben Vormittag setzte die Gendarmerie gegen rund 50 Personen, darunter mehrere Familien, Gas ein, als sie nach einem gescheiterten Überquerungsversuch zu den Camps zurückkehrten.“ Ein Video (siehe unten) zeigt die vom CS-Gas beeinträchtigten Menschen auf einer Straße, also fernab einer Ablegestelle. Utopia 56 erwägt, eine Untersuchung des Falles durch die Inspektion der Gendarmerie zu veranlassen.

CS-Gas-Einsatzes gegen Exilierte nach einer gescheiterten Bootspassage am 25. Mai 2023. (Quelle: Utopia 56 / Twitter)

Bereits am 29. April 2023 hatte La Voix du Nord über einen vergleichbaren Zwischenfall berichtet. An diesem Tag war ein Gendarm am Stand von Oye-Plage durch einen Messerstich leicht an der Hand verletzt worden. Zuvor habe die Gendarmerie das Ablegen eines Bootes verhindert. „Die Migranten wurden gewalttätig und griffen die Soldaten an“, so Gendarmerie-Offizier Martin. Die Gendarmen hätten daraufhin CS-Gas eingesetzt und es sei zu einem Gedränge gekommen, in dem der Gendarm dann verletzt worden sei. Die Zeitung Ouest France zitierte die Gendarmerie sogar mit der Aussage, der Gendarm selbst habe versucht, „das Boot zu zerstechen“ und sei „in einem gewissen Gedränge, inmitten von Tränengas“, verletzt worden. Auch damals berichtete ein General der Gendarmerie, Frantz Tavart, von einer „Zunahme der Gewalt gegen die Ordnungskräfte“ im Zusammenhang mit der Zerstörung ablegender Boote.

Und auch damals machte Utopia 56 eine abweichende Darstellung des Geschehens publik. Amélie Moyart, die Koordinatorin für den Raum Grande-Synthe, erklärte gegenüber Ouest France, dass an dem betreffenden Morgen „eine Gruppe von etwa 50 Migranten […] bei der Organisation angerufen hatte. Sie waren klatschnass und erzählten, dass ihr Boot aufgeschlitzt worden sei, als sie bereits im Wasser waren“, so die Zeitung. Die Feuerwehr habe Utopia 56 daraufhin gebeten, einem Paar mit einem Baby trockene Kleidung zur Verfügung zu stellen; die Familie sei wegen Unterkünlung in das Krankenhaus von Calais gebracht worden. Dies bedeutet, dass das Boot nicht vor dem Ablegen unbrauchbar gemacht, sondern nach dem Ablegen zerstochen und mithin also versenkt wurde.

Im aktuellen wie im damaligen Fall sind also erhebliche Zweifel an der Darstellung der Gendarmerie angebracht. Dies gilt zum einen hinsichtlich der Umstände, unter denen Einsatzkräfte jeweils leicht verletzt wurden: Zwar ereigneten sich beide Fälle im Kontext einer Konfrontation zwischen Gendarmen und Exilierten, allerdings gab es im einen Fall ein Gedränge durch einen CS-Gas-Einsatz und im anderen Fall verlor ein Fahrer die Kontrolle über ein Einsatzfahrzeug. Zum anderen scheint es in beiden Fällen irreguläre Gewaltanwendungen durch die Gendarmerie gegeben zu haben: War es damals offenbar das Zerstechen eines bereits zu Wasser gelassenen und mit Personen besetzten Bootes, so ereignete sich die Gewalt nun offenbar erst, als der Ablegeversuch bereits unterbunden war und sich die Exilierten zurückzogen.

Reaktion von Utopia 56 auf eine Äußerung des Gendarmerie-Genberals Tavart, 29. April 2023. (Quelle: Utopia 56 / Twitter)

Die Zuspitzung an den Stränden hat noch eine andere Dimension: Gendarmerie-General Tavert beschuldigte Utopia 56 nach dem Vorfall vom 29. April gegenüber Ouest France der „Komplizenschaft“, da die Organisation den Exilierten „logistische, nicht nur moralische Unterstützung“ biete und sie so der Gefahr des Ertrinkens aussetze. Vor dem Hintergrund wiederholter Diskreditierung und Kriminalisierung zivilgesellschaftlicher und aktivistischer Arbeit an den EU-Außengrenzen sind solche Äußerung besorgniserregend.

Die Konfrontationen als solche können als eine Folge der größeren Präsenz von Einsatzkräften begriffen werden, die durch eine britisch-französische Vereinbarung vom November 2022 und März 2023 noch einmal massiv aufgestockt wurde (siehe hier und hier). Das Frühjahr 2023 ist die erste Phase, in der diese Maßnahmen mit der jahreszeitlich bedingten Zunahme der Bootspassagen zusammentreffen. Wie es scheint, geht damit auf der Seite der französischen Exekutive eine Logik des Zeichensetzens und Stärkezeigens einher.

[Update, 4. Juni 2023]

Wegen des Vorfalls am 25. Mai 2023 erging inzwischen ein Urteil. Lokalen Medien zufolge sprach das Gericht in Saint-Omer am 31. Mai zwei der vier Angeklagten wegen Mangels an Beweisen frei. Während der Verhandlung wurde die chaotische und unübersichtliche Situation am Strand bestätigt. Über den Verbleib der beiden anderen Angeklagten besteht Unklarheit.