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Calais Channel crossings & UK

Eine Frau stirbt bei einer Bootspassage

[Updated, 30. September 2023]

Eine junge Frau aus Eritrea verlor am 26. September 2023 bei einer versuchten Bootspassage ihr Leben. Medienberichten zufolge wurde an einem Strand westlich von Calais ihr Tod festgestellt, nachdem sie bewußtlos ins Meer gestürzt war – möglicherweise weil sie über Bord geworfen wurde – und ihr Partner vergeblich versucht hatte, sie zu retten. Nach der Havarie vom 12. August, bei der sechs Menschen ertranken (siehe hier und hier), ist es der zweite Todesfall während einer Bootspassage im laufenden Jahr.

Wie die Lokalzeitung La voix du Nord berichtet, wurde der Körper der 24jährigen Frau am frühen Morgen des 26. September 2023 an einem Strand in der Gemeinde Sangatte aufgefunden. Die Feuerwehr versuchte vergeblich, sie wiederzubeleben. Neben ihrem Partner seien ein weiterer Exilierter sowie die Polizei anwesend gewesen.

Die Zeitung vermutet auf der Grundlage erster Zeugenaussagen, dass die Frau gemeinsam mit ihrem Partner versucht hat, den Ärmelkanal auf einem Schlauchboot zu durchqueren. Dabei sei sie „niedergetreten worden“, bevor sie bewusstlos über Bord ging. Die Formulierung lässt auf eine Gedrängesituation hinsichtlich der oft stark überladenen Boote schließen. Ihr Mann sei „zu ihr gesprungen, um sie zu finden, und habe sie dann an den Strand gebracht“. Bereits am selben Tag meldet der öffentlich-rechtliche Sender France Bleu Zweifel an der Vermutung an, dass die Frau ertrunken sei: „Diese These wurde laut dem stellvertretenden Staatsanwalt Philippe Sabatier durch eine erste Untersuchung der Leiche nicht bestätigt.“ Einen Tag später meldete auch La Voix du Nord, dass Ertrinken als Todesursache ausgeschlossen werden könne. Darüber hinaus sprach die Zeitung nun explizit davon, daß die Frau „bewusstlos über Bord geworfen worden“ sei, bevor ihr Partner ihr hinterhersprang. Sollte dies zutreffen, könnte ein Tötungsdelikt vorliegen. Allerdings ist das Geschehen nach wie vor ungeklärt.

Inzwischen veröffentlichte Utopia 56 auf Instagram einige Details zur Todesnacht. Demnach habe die Organisation gegen 4.40 Uhr einen Notruf erhalten, allerdings habe der Anrufer kein Englisch gesprochen und sei durch Schreie übertönt worden. Das Team von Utopia 56 habe ihn daher per SMS um seine GPS-Position gebeten. Fünf Minuten später habe sich eine andere, englisch sprechende Person zurückgemeldet. Während das Team genauere Informationen über die Situation an Bord erfrug, habe der erste Anrufer eine Nachricht in arabischer Sprache gesendet: „Hilfe, bitte, hier ist ein Toter.“ Utopia 56 habe daraufhin Rettungsdienst und Küstenwache alarmiert. Um 5:21 Uhr erhielt die Organisation ein Video, das folgendes zeigte: „Der leblose Körper einer Frau, ihre Kleidung ist durchnässt, liegt am Strand. Man sieht etwa zehn Personen um sie herum, die Schwimmwesten auf dem Rücken haben.“

Den Medien zufolge konnte das beteiligte Boot bislang nicht identifziert werden, auch kam es in Frankreich nicht zu Festnahmen (Stand: 28. September). Allerdings ersuchten die französischen Ermittlungsbehörden, so France Bleu, die britische Seite um Amtshilfe, „um herauszufinden, ob in der Nacht von Montag auf Dienstag ein Boot, in dem sich die junge Migrantin befunden haben könnte, in England angekommen ist.“

Einen Tag später wurde in Großbritannien ein 21jähriger Sudaner festgenommen. Er wird beschuldigt, durch das Steuern eines Bootes „Beihilfe zur illegalen Einreise“ geleistet zu haben. Das Boot soll im Zusammenhang mit dem Todesfall stehen. Seine Festnahme folgt einem Muster, bei dem Bootspassagier_innen aufgrund vager Anhaltspunkte, etwa weil sie am Steuer eines Bootes gesessen haben oder sich in der Nähe des Steuers befunden haben sollen, als Schleuser kriminalisiert und zu Haftstrafen verurteilt werden (siehe hier). Die Festnahme bedeutet also nicht, dass der junge Mann etwas mit dem Tod der Frau zu tun hat.

Der Todesfall ereignete sich in einer Nacht, in der geeignete Bedingungen für die Überfahrt bestanden. Im Bereich der zuständigen Leitstelle CROSS Griz-Nez seien zwei Überfahrten von Schlauchbooten erfasst worden, offenbar gibt es keine Hinweise auf eine Havarie. Nach britischen Angaben erreichten am 26. September drei Schlauchboote mit insgesamt 212 Personen britisches Gewässer. Es waren die ersten Ankünfte nach einer einwöchigen Phase, in der wegen ungünstigem Wetter keine Überfahrten stattfanden. Utopia 56 registrierte in der Nacht zahlreiche Notrufe und sprach von Spannungen und Auseinandersetzungen an der Küstenlinie.

An den Stränden zwischen Dunkerque, Calais und Boulogne-sur-Mer kommt es immer wieder zu chaotischen und teils gewalttätigen Situationen, wenn französische Polizei- bzw. Gendarmeriekräfte gegen Schlauchboote vorgehen, und zwar solange sich diese noch nicht auf See befinden (siehe etwa hier). Eine Folge dieser Praxis ist die Beschleunigung der Ablegemanöver, die entsprechend riskanter werden. Daher stellt sich nicht nur die Frage nach dem genauen Geschehen an Bord, sondern auch, ob der aktuelle Fall mit einer solchen Situation im Zusammenhang stehen könnte. Allerdings reichen die bislang bekannt gewordenen Fakten nicht aus, um einen solchen Zusammenhang zu belegen oder auszuschließen.

Am Abend des Todestages versammelten sich in Calais rund hundert Menschen zu einem Gedenken, mit dem sie einmal mehr die tödlichen Konsequenzen der Grenzpolitik am Ärmelkanal anklagten.