Im küstennahen Seegebiet nahe Boulogne-sur-Mer starben am 22. November 2023 zwei weitere Exilierte. Während eines kurzen Zeitfensters, das sich in einer wochenlangen Schlechtwetterphase auftat, hatten ein Schlauchboot mit 60 Passagier_innen die Überfahrt nach Großbritannien versucht. Das Unglück fällt mit dem Gedenken an die 31 Opfer der bislang schwersten Havarie auf der Kanalroute zusammen, die sich fast auf den Tag genau vor zwei Jahren ereignete. Doch es ist zugleich Ausdruck einer krisenhaften Zuspitzung im nordfranzösischen Küstengebiet.
Wie französische und britische Medien melden, versuchten am 22. November 2023 mehrere Gruppen von Exilierten, den Ärmelkanal zu überqueren. „Bei einer der Abfahrten in Equihen versuchten 60 Personen, auf ein Boot zu klettern, doch zwei von ihnen ertranken schließlich“, berichtet die Regionalzeitung La voix du Nord. Über die Opfer ist bislang bekannt, dass es sich um eine Frau und einen Mann handelt, beide in den Dreißigern ihres Lebens. Drei Exilierte, und zwar zwei schwangere Frauen und ein Kind, wurden in ein Krankenhaus gebracht, die übrigen von der Feuerwehr versorgt oder der Grenzpolizei bzw. dem Zivilschutz übergeben. Die Passagier_innen des Bootes stammten überwiegend aus dem Sudan und Eritrea, meldet das Onlinemedium InfoMigrants unter Berufung auf eine Polizeiquelle. Neunzehn der Passagier_innen seien Frauen gewesen.
Übereinstimmend wird berichtet, dass das Boot um die Mittagszeit von einem Strand zwischen Equihen-Plage und Neufchâtel-Hardelot ablegte. Es handelt sich um ein Gebiet südlich von Boulogne-sur-Mer, von wo aus die Querung des Ärmelkanals wesentlich länger und damit riskanter ist als von der Region um Calais aus. Die Nutzung dieses Küstenabschnitts gilt allgemein als ein Effekt der in den vergangenen Jahren immer weiter verstärkten Küstenüberwachung. Der Vorsitzende der lokalen Organisation Osmose 62, Olivier Ternisien, sagte der Nachrichtenagentur AFP, dass der verstärkte Kontrolldruck die Risikobereitschaft der Exilierten erhöhe. Nie zuvor hätten sie während eines „so kurzen Wetterfensters“ wie am 22. November versucht, in See zu stechen.
Das Unglück ereignete sich am frühen Nachmittag. Nach Angaben der Préfecture maritime de la Manche et de la Mer du nord (Premar; Seepräfektur für den Ärmelkanal und die Nordsee) geriet das Schlauchboot „weniger als einen Kilometer vom Stand entfernt“ in Seenot. Für die Suche nach den beiden vermissten Personen seien sechs Schiffe und ein Hubschrauber mobilisiert worden, allerdings hätten die Beiden nicht mehr wiederbelebt werden können.
Zwei Personen, die das Boot gesteuert haben sollen, wurden laut InfoMigrants festgenommen; außerdem wurden Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung und „Beihilfe zum Aufenthalt eines Ausländers in einer irregulären Situation“ eingeleitet.
Die beiden Todesfälle ereigneten sich fast zwei Jahre nach der Havarie vom 24. November 2021, bei der vermutlich 31 Menschen starben, von denen 27 tot geborgen werden konnten. Doch auch in den vergangenen Monaten häufen sich die Todesfälle, darunter eine Havarie mit sechs Todesopfern am 12. August 2023 (siehe hier und hier).
„Mindestens 18 Menschen sind in den letzten vier Monaten zwischen Calais und Dünkirchen gestorben, sechs in den letzten zehn Tagen, zwei an diesem Nachmittag“, schrieb Utopia 56 am Tag der neuerlichen Havarie: „Ertrunken bei einem Überquerungsversuch oder in einem Gewässer beim Versuch, sich zu waschen, überfahren oder von einem LKW auf der Autobahn gestürzt, erstochen bei einer Abrechnung oder im Streit um eine Mahlzeit, oder indem jemand seinem Leben ein Ende setzte – all diese Szenen von Gewalt und Leid haben sich in den letzten Monaten ereignet.“ Und weiter: „Seit Jahren kommt es alle paar Tage zu Räumungen, Gewalt ist an der Tagesordnung, ein Todesfall folgt dem anderen, aber nichts ändert sich. Nachdem wir den Sturm überstanden haben, kommt der Winter und jeder Tag wird gefährlicher.“
Am Tag der Havarie gelangte ein anderes Boot mit 38 Passagier_innen nach Großbritannien. Während der vorausgegangenen Schlechtwetterperiode hatten im November nur an zwei Tagen überhaupt Boote übersetzen können, so zwölf Boote mit 615 Menschen am 12. November und sieben Boote mit 356 Menschen am 16. November. Insgesamt haben seit Jahresbeginn etwa 27.700 Bootspassagier_innen übergesetzt, knapp so viele wie im Gesamtjahr 2021 und rund ein Drittel weniger als im Jahr 2022. Seit September nimmt die Zahl der Passagen gemessen am Vorjahr deutlich stärker ab, während ungewöhnlich viele Menschen in den nordfranzösischen Camps unter katastrophalen Bedingungen ausharren.