Das „Ruanda-Modell“ in den Europawahl-Programmen von CDU/CSU und EVP. Eine Aktualisierung
Vor einigen Wochen haben wir an dieser Stelle einen Überblick zur Adaption des britischen Ruanda-Deals durch deutsche Parteien gegeben: Ausgehend von der rechtsextremen AfD, haben CDU, FDP und BSW die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten in ihre Europawahlprogramme aufgenommen, lediglich SPD und Linkspartei sprechen sich dagegen aus (siehe hier). Nun hat sich auch die Europäische Volkspartei (EVP), aus deren Reihen die amtierende EU-Kommissionspräsidentin kommt, das Konzept zueigen gemacht. Der rechte Flügel der britischen Tories, der den Ruanda-Deal 2022 auf den Weg gebracht hat, ohne ihn jemals umsetzen zu können, erweist sich währenddessen immer deutlicher als Teil der rechtsextremen Mobilmachung gegen die liberale Demokratie und Gewaltenteilung.
Anfang März verabschiedete die EVP auf ihrem Parteikongress in Bukarest das Manifest Our Europe, a safe and good home for the people. Der Text ist ein betont konservatives Programm für die nächste europäische Legislatur, die voraussichtlich von einer weit nach rechts verschobenen Mehrheit im Europäischen Parlament geprägt sein wird. Die EVP vollzieht ganz offensichtlich eine Anpassung an diese Entwicklung, wozu im Bereich der Migrationspolitik die Übernahme des britischen Ruanda-Modells gehört. Der entsprechende Passus des Manifests lautet:
„We also advocate a fundamental change in European asylum law. We are committed to the fundamental right to asylum, but the EU, together with its Member States, must have the right to decide whom and where is it granted. We will conclude agreements with third countries to ensure that asylum seekers can also be granted protection in a civilised and safe way. We want to implement the concept of safe third countries. Anyone applying for asylum in the EU could also be transferred to a safe third country and undergo the asylum process there. In case of a positive outcome, the safe third country will grant protection to the applicant on-site. A comprehensive contractual agreement will be established with the safe third country. The criteria for safe third countries shall be in line with the core obligations of the Geneva Refugee Convention and the European Convention on Human Rights. Both conventions do not include the right to freely choose the country of protection. Following the successful implementation of the third country concept, we propose to admit into the EU a quota of people in need of protection through annual humanitarian quotas of vulnerable individuals. This allows us to address both security and integration requirements in the selection process and effectively refuse entry to irregular migrants at our external borders.“
Die Formulierung erwähnt den britischen Ruanda-Deal nicht explizit als Vorbild, was angesichts der – trotz enormer Kosten in Höhe von schätzungsweise 370 Millionen Pfund –bislang gescheiterten Umsetzung auch nicht geschickt wäre. Dennoch ist klar, dass nicht die dänischen und italienischen Konzepte einer Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten gemeint sind, denn nur das britische Modell sieht die von der EVP geforderte Abwicklung der Verfahren nach dem nationalen Recht des Drittstaats mit anschzließendem Verbleiben „on-site“ bei positivem Ausgang des Verfahrens vor.
Das EVP-Manifest ähnelt stark dem neuen Grundsatzprogramm der CDU, das zurzeit noch auf regionalen Mitgliederversammlungen debattiert wird. Auf nationaler Ebene wirbt zugleich die bayerische Schwesterpartei CSU, die den amtierenden Vorsitzenden der EVP stellt, immer stärker für das Konzept. So drängt die CSU auf eine Positionierung des sozialdemokratisch geführten Bundesinnenministeriums zum sogenannten Drittstaaten-Modell und wirft Ministerin Nancy Faser vor, einen 2023 erteilten Prüfauftrag der Ministerpräsidentenkonferenz zu verzögern.
Am 8. Februar 2024 reiste eine von Alexander Dobrindt geleitete Delegation der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag nach Ruanda und traf nach eigener Mitteilung den „ruandische[n] Flüchtlingsminister Albert Murasira“. Generalmajor Murasira war bis 2023 Verteidigungsminister und amtiert momentan als Minister für Notfallmanagemant (Emergency management). In dieser Funktion ist er laut Website der ruandischen Regierung „mandated to have a pro-active refugee policy and good mechanism for handling of Rwandan and Foreign Refugees affairs in respect of Rwandan law and international treaties.“ Der Besuch fand in ruandischem Medien kaum Beachtung und wurde, wenn überhaupt, eher als Höflichtkeitsbesuch wahrgenommen.
Auf den Social media-Accounts der CSU erscheint er hingegen als einer Art Vorsondierung eines deutschen Ruanda-Plans. Dabei zitierte die Partei Murasira mit der Aussage: „Rwanda wants to be part of an innovative solution to the #migration problem in Europe. […] We are committed to work closely with Germany on this issue.“ Laut CSU-Fraktion habe Murasira sich bereit gezeigt, „mit Deutschland ein sogenanntes Drittstaatverfahren zu entwickeln, bei dem sowohl die Asylverfahren als auch der notwendige Schutz und Unterbringung in Ruanda gewährleistet werden können.“ Wie konkret oder unkonkret das Gespräch auch gewesen sein mag, es unterstreicht die innenpolitische Vorbildfunktion des britisch-ruandischen Deals für die deutschen Unionsparteien als Teil der EVP.
Eine Übernahme des britischen Ruanda-Modells auf deutscher oder europäischer Ebene würde auf massive verfassungs- und menschenrechtliche, politische, moralische und nicht zuletzt infrastrukturelle Barrieren stoßen. Erinnern wir uns: Der britische Ruanda-Plan war für die vergleichsweise kleine Gruppe derjenigen Exilierten kreiert worden, die den Ärmelkanal von Nordfrankreich aus in small boats passieren. Diese machen in Großbritannien trotz hoher medialer Aufmerksamkeit nur einen Bruchteil der jährlichen Migration aus. Zudem ist es Großbritannien trotz jahrelanger Bemühungen nicht gelungen, neben Ruanda noch andere Staaten dazu zu bewegen, verglichbare Vereinbarungen zur unfreiwilligen Übernahme dieser Menschen zu schließen. Auf Deutschland oder die EU übertragen, wäre ein System solcher Abkommen mit einer größeren Zahl von Vertragsstaaten notwendig, dem intensive gerichtliche Prüfungen vorausgehen müssten – oder alternativ: ein Bruch mit geltendem Recht und rechtstaatlichen Mechanismen. Und selbst wenn all dies geschähe, dürfte das Vorhaben, auf eine große Zahl von Menschen angewandt, schlicht an fehlenden Kapazitäten scheitern.
Das britische Beispiel zeigt, dass das Beharren auf dem Ruanda-Deal in den Augen des rechten Parteiflügels der Tories längst nicht mehr ohne offenen Angriff auf Rechtstaatlichkeit und Gerichtsbarkeit auskommt. Der Ruanda-Deal war von Anfang an eine populistische Antwort der Post-Brexit-Rechten auf einen besonders sichtbaren und symbolbeladenen Ausschnitt des Migrationsgeschehens. Die früheren Abschottungspolitik Australiens wurde von einem rechten Thinktank auf britische Verhältnisse übertragen (siehe hier) und eine Argumentation entwickelt, wie sie nun teilweise in den Programmen von CDU und EVP wiederkehrt. Dabei wurde die Auslagerung von Asylverfahren in Offshore-Territorien oder Drittstaaten als eine Art B-Plan ins Spiel gebracht, nachdem absehbar war, dass ein zunächst angestrebtes Rücknahmeabkommen zwischen Großbritannien und der EU nicht erreicht werden konnte. In der Folge überfrachtete die britische Rechte den Ruanda-Deal mit überzogenen Erwartungen machte ihn schließlich zum Herzstück eines extrem restriktiven Asylrechts (Illegal Migration Act 2023, siehe hier), das so konstruiert ist, dass es ohne den Ruanda-Deal gar nicht vollständig wirksam werden kann. Solange der Ruanda-Deal scheitert, bleibt diese Migrationspolitik ein Schwerbenhaufen. Angesichts dieses Scheiterns und bei gleichzeitig katastrophalen Umfragewerten spitzen Vertreter_innen des rechten Parteiflügels die schon länger bestehende Demagogie gegen eine angeblich aktivistisch und links urteilende Justiz zur Forderung zu, aus dem Geltungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention auszutreten. Genau dieses Gericht hatte im Juni 2022 den ersten und bislang einzigen Abschiebeflug nach Ruanda unterbunden und dürfte bei einem eventuellen zweiten Versuch erneut angerufen werden.
Der rechte Flügel der Tories bewegt sich nach Ansicht vieler Beobachter_innen inzwischen ebenso wenig im Rahmen des liberaldemokratischen Parteiengefüges wie die deutsche AfD. Er hat sich, wie Äußerungen der früheren Premierministerin Liz Truss und der früheren Innenministerin Suella Braverman jüngst unterstrichen, in die rechtsextremen Mobilisierungen diesseits und jenseits des Atlantiks eingefügt. Die Fortschaffung der Channel migrants ist ein politisches Symbol dieses radikalisierten Selbstverständnisses. Wenn sich konservative Parteien auf europäischer und nationaler Ebene dieses Symbol nun zueigen machen, so lässt dies mehrere Lesarten zu: Die Illusion eines europäischen oder deutschen Ruanda-Deal kann als Versuch verstanden werden, die rechtsextreme Bedrohung in voller Kenntnis der bisherigen Undurchführbarkeit dieses Vorhabens populistisch einzugehen. Wird das Modell jedoch ernsthaft als eine europäische Option begriffen oder sogar mit der Vorstellung eines grundlegenden Systemwechels weg vom individuellen Recht auf Schutz verknüpft, so könnte es sich als ein gemeinsames Projekt mit der extremen Rechten erweisen.