Weit im Hinterland der nordfranzösischen Küste ereignete sich am 3. März 2024 ein tödlicher Unfall: Als eine Gruppe von Geflüchteten auf ein Boot stieg, um über den kanaliesierten Fluss Aa den Ärmelkanal zu erreichen und nach Großbritannien überzusetzen, ertrank ein siebenjähriges Mädchen (siehe hier). Wie nun bekannt wurde, starb an einer anderen Stelle der Aa wenige Stunden zuvor vermutlich ein weiterer Mensch.
Bekannt wurde der Fall durch eine gemeinsame Erklärung von vierzehn französischen und britischen Organisationen, darunter lokale Akteure wie Utopia 56, l’Auberge des Migrants, Human Rights Observers und Salam und überregionale NGOs wie Secours Catholique, La Cimade, Médecins du Monde und das Institute of Race Relations. Sie fordern die Wiederaufnahme der Suche nach der vermissten Person, dem 27jährigen Jumaa Alhasan aus Syrien.
In der Erklärung heißt es, dass Utopia 56 kurz nach Mitternacht am 3. März folgenden Notruf erhielt: „A person died in the river“. Dazu wurden Standortdaten des canal de l’Aa bei Gravelines übermittelt. Gravelines ist ein Ort zwischen Dunkerque und Calais, von wo aus der Aa-Kanal nach kurzer Distanz ins Meer einmündet. Mit zunehmender Überwachung der Strand- und Dünengebiete wurden Wasserstraßen wie die Aa zu alternativen Ablegestellen der Boote.
Utopia 56 habe daraufhin Polizei und Feuerwehr alarmiert. Einige Stunden später habe ein Augenzeuge das Geschehen in der Nacht so geschildert: „Wir waren auf dem Boot, und unser Freund versuchte, mit uns zu kommen, als wir nach Großbritannien übersetzen wollten, und die Polizei kam, ungefähr sechs von ihnen, und wir hatten Angst, dass wir Probleme bekommen würden. Unser Freund sprang zu uns, aber er konnte nicht gut schwimmen und wir verloren ihn im Fluss. Wir schrien nach der Polizei, aber das war ihnen egal. Einer von ihnen sagte uns: ‚Das ist nicht unsere Aufgabe‘ […].“
Demnach sprang der Mann aus Furcht vor der Polizei ins Wasser, wobei der Vorwurf im Raum steht, dass die in dieser Situation nötige Hilfe unterblieb. Im weiteren Verlauf kam jedoch eine Suchaktion zustande, bei der das Polizeikommissariat von Dunkerque nach eigenen Angaben eine Drohne und Wärmebildkamera einsetzte. Die vierzehn Organisationen werfen der Polizei vor, die Suche „nur wenige Stunden nach dem Verschwinden“ wieder eingestellt zu haben. An den beiden folgenden Tagen hätten sich dann „mindestens fünf Personen, die sich auf dem Boot befanden“, an freiwillige Helfer_innen und Unterstützer_innen gewandt. „Alle erzählten dieselbe Geschichte. Jumaa ist nicht wieder aus dem Kanal gekommen, und einige berichten, dass die Suche der Polizei kaum eine Stunde gedauert hat.“
An den folgenden Tagen sei dann Jumaas Onkel angereist, um nach ihm zu suchen. Am 9. März gab er bei der Polizei eine Vermisstenanzeige auf, die lediglich registriert wurde. Eine Wiederaufnahme der Suche erfolgte nicht.
Die Organisationen weisen darauf hin, dass seit der Jahrtausendwende etwa 400 Todesfälle von Exilierten in der Ärmelkanalregion dokumentiert wurden. „Diese Zahl spiegelt jedoch nicht die Realität wider: Sie heißen Jumaa, Zanyaar, William, Haftom, Nima oder auch Hiva und so viele andere, alle sind verschwunden, einige auf dem Meer und andere, wie Jumaa, in einem Fluss, der doch leicht abzusuchen ist. Die Angehörigen dieser Opfer werden von gleichgültigen Institutionen im Stich gelassen und haben keine Möglichkeit zu trauern.“
Seit dem Spätsommer 2023 beobachten wir eine im Vergleich zu den Vorjahren außerordentliche Häufung von Todesfällen. Auch im laufenden Jahr haben sich pro Monat mehrere tödliche Situationen ereignet. Es ist zu befürchten, dass ein weiterer hinzugekommen ist.