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Calais

Vorfeldsituation einer möglichen Katastrophe

Calais nach der Zäsur der Europawahl am 9. Juni 2024

Die Auflösung der französischen Nationalversammlung nach der Europawahl am 9. Juni 2024 hat der extremen Rechten die Möglichkeit eröffnet, erstmals in der Geschichte der Fünften Republik die Regierungsmacht an sich zu ziehen. Der 9. Juni war zugleich Auslöser rassistischer und rechtsextremer Gewalttaten, auch an der nordfranzösischen Küste. Sie richteten sich sowohl gegen Exilierte als auch gegen zivilgesellschaftliche Organisationen. Das französische Onlinemedium InfoMigrants gab am 21. Juni einen Einblick in die Vorfeldsituation der möglichen politischen Katastrophe.

Betrachten wir jedoch zunächst den Kontext: Rechtsextreme und rassistische Gewalt hat im nordfranzösischen Küstengebiet immer eine Rolle gespielt, war jedoch nie ein bestimmender Faktor. Sie äußerte sich in den vergangenen Jahren etwa in Steinwürfen auf das Fahrzeug einer zivilgesellschaftlichen Organisation im September 2022 (siehe hier), möglicherweise auch in Sabotageakten gegen Trinkwasserbehälter (siehe etwa hier). Hinzu kam auf der britischen Seite des Ärmelkanals ein rechtsterroristischer Anschlag im Oktober 2022, verbunden mit dem Suizid des Attentäters (siehe hier). Diese Fälle lassen sich durchgängig Einzeltätern zuschreiben.

Eine größere und organisierte Mobilisierung der militanten Rechten bestand jedoch vor rund einem Jahrzehnt, zur Zeit des medial sehr präsenten Jungle von Calais (2015/16) und seiner politisch ebenfalls stark skandalisierten Vorläufer (2014 und früher). Allerdings gelang es den damaligen rechtsextremen Akteuren nicht, eine dauerhafte Drohkulisse zu schaffen. Vielmehr ebbte die Gewaltwelle ab, auch infolge staatlicher Repressalien. Spätere Versuche etwa der deutschen Pegida oder des französischen Rechtsextremisten Éric Zemmour (siehe hier), sich in Calais als Kämpfer gegen die Migration zu inszenieren, wirkten aufgesetzt und bisweilen lächerlich. Allerdings pflegte die seit 2008 amtierende Calaiser Bürgermeisterin Natacha Bouchard eine rechte und populistischen Rhetorik gegen die migrantischen Camps in ihrer Stadt. Sie gehörte jedoch nie einer rechtsextremen Partei an, sondern wechselte von den gaullistischen Republikanern in das Lager von Präsident Macron. Allerdings war ihre Politik anschlussfähig für die extreme Rechte. Ein lokaler Politiker des RN radikalisierte diese Form von Populismus beispielsweise im Januar 2022 durch ein Video, das eine auf Migranten in Calais angelegte Pistole zeigt (siehe hier).

„Die extreme Rechte hat sich nach und nach in diesem Gebiet verwurzelt, das für die Kader des Rassemblement National (RN) zum Symbol einer ‚unkontrollierten Einwanderung‘ geworden ist“, umreisst InfoMigrants eine schleichende Veränderung in den vergangenen Jahren. Und verdeutlicht dies am Beispiel von Calais: „Die Stadt hat Marine Le Pen, der Vorsitzenden der RN-Fraktion in der Nationalversammlung, bei den Präsidentschaftswahlen 2017 57 % der Stimmen gegeben. Fünf Jahre später gab sie ihr 61 % der Stimmen. Derselbe Höhenflug bei den Europawahlen. Von 41 % im Jahr 2019 holte Jordan Bardella, der Vorsitzende des RN, bei der Wahl 2024 in Calais über 50 %.“

Der 9. Juni stellt aus Sicht von InfoMigrants einen „Durchbruch der extremen Rechten und eine Freisetzung rassistischer Äußerungen“ dar. Dies veranlasse die lokalen zivilgesellschaftlichen Akteure bereits jetzt „zu größerer Wachsamkeit“, wenn sie zur Unterstützung der Geflüchteten unterwegs seien. Auch wurden Exilierte attackiert.

Juliette Deplace von Secours Catholique, der französischen Caritas, berichtete gegenüber InfoMigrants: „Ich habe Berichte von Exilierten erhalten, die am Abend der Auflösung [der Nationalversammlung am 9. Juni] an einer Bushaltestelle mit Bleichmittel (eau de javal) bespritzt wurden […] Ein anderer hat mir erzählt, dass er mit einer Wasserbombe beworfen wurde, in der sich eine schmutzige Flüssigkeit befand.“ Außerdem seien Exilierte, die sich auf dem Bürgerstein in der Nähe von Secours Catholique aufhielten, aus einem fahrenden Auto heraus mit Wurfgeschossen angegriffen worden.

In derselben Woche seien auch an einem früheren besetzten Haus in der Calaiser Innenstadt rassistische Parolen angebracht worden. Seinerzeit hatten die Besetzer_innen dort einen selbstorganisierten Lebensraum für Exilierte geschaffen. Die Parolen lauteten „Leave or Burn“ und „À bas la tyrannie migratoire“ („Nieder mit der Migrationstyrannei“) – ein unverhohlener Aufruf zu rassistischer Gewalt.

InfoMigrants ordnet auch die Kontamination eines Trinkwasserbehälters für mehrere hundert Bewohner_innen des Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque am 13./14. Juni in diesen politischen Kontext ein. Der Behälter war von Unbekannten mit einer dunkelblauen Flüssigkeit versetzt worden (siehe hier).

„Es ist nichts Neues, mit Rechtsextremen konfrontiert zu werden. Wir hatten bereits Beschädigungen unserer Räumlichkeiten und Fahrzeuge“, zitiert InfoMigrants die nationale Koordinatorin von Utopia 56 in Paris. „Wir befürchteten eine Verstärkung dieses Phänomens durch das Ergebnis der RN… Und es hat nicht länger als eine Woche gedauert, bis es zu feindseligen Handlungen kam, und das ist sehr beunruhigend. Wir hatten Drohungen befürchtet, jetzt haben wir es mit Taten zu tun“.

Utopia 56 steht seit Längerem in Visier französischer Rechtsextremisten. Im Vorfeld der Europawahl hatte die Organisation außerdem den Zorn der RN auf sich gezogen, als sie gemeinsam mit der französischen Menschenrechtsliga Strafanzeige gegen den früheren Frontex-Chef Fabrice Lerreri wegen des Verdachts schwerer Menschenrechtsverstöße stellte. Leggeri kandidierte auf Platz 3 der RN-Liste für das Europäische Parlament.

Mehrere andere zivilgesellschaftliche Akteure teilen die Beobachtungen und Befürchtungen von Utopia 56. So erklärte Claire Millot von der in Calais und Dunkerque aktiven Hilfsorganisation Salam gegenüber InfoMigrants: „Ich bin seit vielen Jahren Aktivistin im Norden und habe mich nie vor Gewalt dieser Art gefürchtet. Aber jetzt bin ich vorsichtiger […] Ich schaue, dass mein Haus nicht besprüht wird, wenn ich von zuhause weg bin […] Denn ich weiß, dass das jetzt passieren könnte“. Auch Pierre Roque von l’Auberge des migrants, einer ähnlich traditionsreichen lokalen Vereinigung wie Salam, berichtete von Zwischenfällen in den vergangenen beiden Wochen: „Und wir glauben, dass diese Vorfälle mit RN-Wählern zusammenhängen, Wählern, die glauben, dass sie schon im Voraus gewonnen haben.“