Ob Labour, Tories oder rechte Randalierer*innen: in Großbritannien wollen alle die Flüchtlingsboote über den Ärmelkanal stoppen. Für jene, die darin sitzen, bedeutet dieser Diskurs eine Gefahr, die immer öfter tödlich endet.
Der folgende Text ist die ursprüngliche Version eines Artikels in der aktuellen deutschsprachigen Ausgabe von Le Monde diplomatique. Die Recherchen dazu fanden im Rahmen unseres letzten Besuchs am Ärmelkanal im Juli statt.
Kurz bevor es hell wird, hat sich bleischwere Erschöpfung über die Bahnhofshalle von Boulogne-sur-mer gelegt. Ganz hinten in der Ecke schlafen elf Menschen auf dem Boden, einer neben dem anderen, ohne Decken oder Unterlagen, zusammengekauert nur in ihren Klamotten. Ein paar Meter entfernt, auf einem Rondell aus Bänken unter den Abfahrts- und Ankunftstafeln, wartet eine Gruppe junger Vietnames*innen schweigend auf den ersten Zug in Richtung Calais. Der Zug kommt erst in gut einer Stunde, um halb sieben. Vor der Fensterfront am Eingang dösen etwa 15 Personen vor sich hin, tief in die Plastiksitze versunken. Auch vier Kinder sind darunter, zwei Mädchen und zwei Jungen.
Ein Mann um die 30 unterhält sich raunend mit seinem Nachbarn. Die Gruppe kommt teils aus Syrien, teils aus Irak, sagt er leise. Eigentlich wären sie nun auf einem Schlauchboot in Richtung England, das in der Nacht in den Dünen vor der Stadt ablegen sollte. Stundenlang warteten sie in einem nahen Wäldchen auf das Boot. In den Städten an der Küste, in Dunkerque und Calais im Norden und in Boulogne, wurde unterdessen das Feuerwerk zum 14. Juli in den Himmel geschossen. Doch das Warten war umsonst. Das Boot kam nicht. „Der Mann, der uns hierher bestellte, hat gelogen“, sagt der Syrer resigniert. Seit drei Wochen ist er am Ärmelkanal. Fünf Mal hat er vergeblich versucht ihn zu überqueren.
Die Boote, mit denen Geflüchtete nun schon seit über fünf Jahren versuchen, die Meerenge zwischen Calais und Dover zu überwinden, sind in diesem Sommer wieder einmal in aller Munde. Vor allem drüben auf der britischen Seite, die an der schmalsten Stelle des Kanals nur gut 30 Kilometer vom Kontinent entfernt und an klaren Tagen mit bloßem Auge zu sehen ist. Unmittelbar, nachdem die Labour– Partei Anfang Juli die Unterhaus-Wahlen gewann, erklärte der neue Premier Keir Starmer den berüchtigten Ruanda-Plan der Tories, klandestin über den Ärmelkanal Eingereiste in das ostafrikanische Land abzuschieben, für „tot und begraben“.
An seine Stelle soll nun ein sogenanntes Border Security Command rücken, wie von Labour schon im Wahlkampf angekündigt, finanziert mit 75 Millionen Pfund aus dem Ruanda-Plan. Direkt dem Innenministerium unterstellt, liegt das BSC an der Schnittstelle von National Crime Agency, Geheimdiensten, Einwanderungsbehörden und Grenzschutz. Ziel sei es, „die Sicherheit der britischen Grenzen zu verstärken und die kriminellen Schmuggler-Gangs zu zerschlagen, die mit den Überfahrten der small boats Millionen machen“, so Home SecretaryYvette Cooper kurz nach ihrem Dienstantritt. Erster Schritt: die schnelle Rekrutierung eines „außergewöhnlichen“ Chefs.
Während man in London an dieser Schlüssel-Personalie schraubt, legen die Boote weiter von den Stränden Nordfrankreichs ab- jede Nacht, in der Wellen und Wind es zulassen. Und jeden nächsten Morgen sammeln sich an Orten wie dem Bahnhof von Boulogne die Gescheiterten, um zurück in ihre Camps zu gelangen. Von Jahresbeginn bis Starmers Wahlsieg haben mehr als 14.000 Menschen in Schlauchbooten den Ärmelkanal überquert, die meisten aus Afghanistan, Iran, Türkei, Eritrea, Syrien und Irak. Das sind etwa 10 Prozent mehr als im letzten Jahr zu diesem Zeitpunkt. Da die Überfahrten jeweils ab dem Sommer stark zunehmen, könnte die Gesamtzahl in diesem Jahr mit 2022 vergleichbar sein, als über 45.000 Personen in Schlauchbooten über den Kanal kamen.
Ein Bild machen vom kontinuierlichen Strom kann man sich nachmittags an einer Bushaltestelle in Grande-Synthe, einer Vorstadt von Dunkerque unweit der belgischen Grenze. Dunkerque markiert den Norden des Gebiets, von wo aus Menschen aus den Krisengebieten der Welt Großbritannien zu erreichen versuchen. Im Süden liegt Boulogne, dazwischen Calais, dessen ´Jungle´ genanntes Elendscamp in den Zehner-Jahren zum Symbol einer lange vergessenen Flüchtlingskrise wurde. Mit der medienwirksamen Räumung 2016 wollten die französischen Behörden diese ein für allemal beenden. Nicht zum ersten Mal erwies sich das als Trugschluss.
Im Juli schätzen Hilfsorganisationen, dass in kleineren Niederlassungen im Raum Calais insgesamt 700 Personen leben. Noch einmal 500 sind es im aktuell größten inoffiziellen Geflüchteten-Camp der Gegend in der Peripherie von Dunkerque. Zehn Minuten zu Fuß davon liegt die besagte Bushaltestelle an einem riesigen Einkaufszentrum. Die dortige Filiale des Hypermarkts Auchan istdie Nahrungsquelle des Camps. Gegen 16 Uhr sitzen auf dem schmalen Bordstein hinter der Haltestelle und entlang des anliegenden Felds einige Dutzend Menschen, darunter mehrere Kinder. Um sie herum liegen Tüten und Taschen, Rucksäcken und grell-orange Rettungswesten.
Jede*r hier weiß, was diese Menschen in der Nacht vorhaben. Doch Notiz nimmt niemand von den Wartenden: nicht die Radfahrerinnen, die von der Arbeit kommend die Haltestelle passieren, nicht die Jugendlichen auf dem Weg von der Schule, auch nicht die Busfahrer. Die Welt der klandestinen Immigration und jene des geregelten, bürgerlichen Lebens kommen sich hier ganz nahe, berühren sich kurz, nur um sich dann wieder in entgegengesetzte Richtungen zu entfernen. Die einen erwartet das Abendessen, die anderen ein Abenteuer mit maximal ungewissem Ausgang: eine Kanalüberquerung, bei der alles passieren kann.
Je weiter der Nachmittag fortschreitet, desto mehr Menschen betreten, aus dem nahen Camp kommend, mit ihrem bisschen Gepäck die Szenerie, die sich über 150 Meter erstreckt. Sie bewegen sich in Gruppen von etwa 40 und lassen sich hinter dem Glashäuschen der Haltestelle am Feldrand nieder. In einer kleineren Gruppe gibt es auffallend viele junge Familien mit Kinderwägen. Zwei kleine Mädchen haben in der Nachmittags-Sonne ihre rosa Jacken ausgezogen. Ab und zu überquert jemand vom Einkaufszentrum aus die Straße, mit einer Ladung billiger Baguettes oder kleiner Wasserflaschen unter dem Arm.
Immer dann, wenn ein Bus mit der Aufschrift ´Gravelines´ vorfährt, erheben sich eine oder mehrere Gruppen und drängen hinein. Gravelines ist ein südwestlich gelegenes Städtchen, von dessen überaus breiten, einsamen Strand in diesem Sommer zahlreiche Boote ablegen- mehr noch als aus den Dünen bei Boulogne. Das Buschland dahinter bietet mit seinen Lichtungen viele Möglichkeiten, sich einige Stunden lang zu verstecken, bis die Schleuser das versprochene Boot bringen. Zurückgelassene Kleidungsstücke, Verpackungen und Getränkedosen künden davon, dass dies kürzlich noch geschah. Am Strand liegen ein Schlafsack, eine Decke und wasserdichte Telefon-Hüllen.
Wegen der Gezeiten stechen die Boote von Gravelines oft frühmorgens in See, wenn die Flut den Strand deutlich schmaler macht. Es ist kurz nach Sonnenaufgang, als oben auf dem Dünenkamm vier Silhouetten erscheinen. Der Wind des Vortags hat sich gelegt, die See ist ruhig und kaum hörbar, hinter den Dünen summt das AKW von Gravelines monoton vor sich hin. Die Silhouetten kommen näher, es sind drei Erwachsene und ein kleines Mädchen. Sie tragen Rucksäcke und Tüten, schauen sich suchend um. Am Dünenkamm taucht ein weiterer Mann mit zwei Kindern auf, eines davon trägt eine Rettungsweste. „Boot?“, fragt der Mann, „ist hier kein Boot?“ Er spricht kaum Englisch. Sie gehen zurück in die Dünen, wo noch einige Menschen warten. Nach einigen Minuten machen sie kehrt. „Wir gehen zurück in den Jungle“, sagt ein anderer Mann, der aus Afghanistan kommt.
Jungle nennt man hier nicht nur das bereits erwähnte Camp vor den Toren von Calais, in dem sich vor seiner Räumung im Herbst 2016 teils mehr als 10.000 Geflüchtete aufhielten. Es ist auch ein geflügeltes Wort für jede Niederlassung Geflüchteter auf dem Weg nach England, die in Frankreich keinen Zugang zu staatlicher Hilfe haben. Ein Vierteljahrhundert schon spielt sich diese Transitmigration an der Kanalküste ab, erst versteckt auf LKWs oder durch den Eurotunnel, seit Ende 2018 vor allem mit Booten. Auf der anderen Seite lockt die Aussicht auf ein neues Leben in Freiheit und einen Job. Viele haben Familienmitglieder dort oder Sprachkenntnisse. Die Kombination aus all dem hat einen Mythos geschaffen, der zwar nicht unbedingt der Realität entspricht, von den Schleusern, die Überfahrten organisieren, aber im eigenen Interesse am Leben gehalten wird.
Der Jungle von Dunkerque- der bei der Bushaltestelle am Einkaufszentrum- zu dem die Gruppe aus Gravelines aufbrach, ist ein umkämpftes Gebiet. Einerseits, weil die Behörden im letzten Jahr große Teile des umliegenden Brachlands zwischen Schnellstraßen, Industriegebieten und dem Canal de Bourbourg mit drei Meter hohen, engmaschigen dunkelgrünen Zäunen eingepfercht haben- präventiv, damit niemand mehr Zelte aufstellen oder aus Baumstämmen und Plastik-Planen Behausungen zimmern kann. Andererseits ist dies seit Jahren das Territorium von Schleuser-Banden, die hier ihre Machtkämpfe austragen. Ein iranischer Camp-Bewohner berichtete letzten Herbst, in der Nacht seien dort oft Schüsse zu hören. Es war nicht das erste Zeugnis dieser Art.
Geschossen wird auch an einem windigen Nachmittag Mitte Juli. Auf einem freiliegenden Gelände, das die Hilfsorganisationen distribution point nennen, steht ein Kleinbus mit einer mobilen Arztpraxis, es gibt Wasserhähne, provisorische Duschen, Internet-Zugang und Möglichkeiten Telefone aufzuladen. Warmes Essen wird verteilt, Kinder können sich mit Spielen die Zeit vertreiben- die Basis-Infrastruktur eines solchen Camps für einige Stunden am Tag. Die Schüsse kamen irgendwo aus der Nähe, warnt ein Mitglied einer NGO telefonisch. Niemand sollte sich vorläufig weit vom distribution point entfernen.
Ein Mann mit ergrauenden Locken will dennoch zurück zu seiner Unterkunft, die gleich hinter der ersten Buschreihe liegt. Rashid Ahmad ist 40 Jahre alt und kommt wie viele der Bewohner*innen des Camps aus dem kurdischen Nord-Irak. Er ist mit seiner Frau und seinem Bruder hier. Seit einer Woche sind sie im Jungle, zwei Mal wollten sie bisher die Überfahrt wagen. Beide Male wurden sie von der Polizei abgefangen, die das Boot mit Messern aufschlitzte. Von Fällen wie diesem hört man beinahe täglich am Kanal. Es ist eine gängige Methode, Menschen an der lebensgefährlichen Passage zu hindern.
Rashid Ahmad ist eigentlich selbst Polizist. Grenzpolizist, genauer gesagt. „Im Irak arbeitete ich an der Grenze zur Türkei. Aber ich hatte ein politisches Problem, deshalb musste ich fliehen.“ Nun steht er selbst vor einer Grenze, an der sich das seit Jahren gleiche Bild bietet: Menschen, die auf stillgelegten Schienen hocken, die Köpfe zusammenstecken, warten, irgendwann aufbrechen und oft genug enttäuscht zurückkommen. Dann wiederholt sich das Ganze. „Wir werden uns jetzt auf einen neuen Versuch vorbereiten“, sagt Rashid Ahmad mit ruhiger Stimme, und empfiehlt sich.
Ein anderer irakischer Kurde ist angesichts dieser Situation weniger gelassen. Adam Husain, so stellt er sich vor, auch er mittleren Alters, trägt einen Trainingsanzug und hat eine Kippe im Mundwinkel. Er verlässt das Camp zur Straße hin, wo die grüne Zaunlandschaft beginnt. Einst arbeitete er für das britische Militär im Irak, was seinem fließenden Englisch einen unverkennbaren Akzent gab. Was die Überfahrt angeht, zögert er. „Ich habe gehört, dass die Polizei die Boote zerstört. Aber auch sonst weiß ich nicht, ob ich auf so etwas mein Leben riskieren will.“
24 Todesopfer haben die Boots-Passagen bislang 2024 gefordert- die letzten vier erst am 12. Juli, bei einer Havarie nördlich von Boulogne. Die Opfer kamen aus Äthiopien, Somalia und Eritrea. Einen Tag später trafen sich knapp 300 Geflüchtete und Mitglieder von Hilfsorganisationen am Parc Richelieu in Calais, wo traditionell der Toten an dieser Grenze gedacht wird. 411 sind es nunmehr seit 1999. Ihre Namen standen auf einem langen, auf dem Boden ausgerollten Transparent. Die Präfektur gab bekannt, sechzig Personen seien an Bord des havarierten Bootes gewesen, dessen Motor für eine solche Überbelegung völlig unzureichend war.
Solche Umstände sind alles andere als eine Ausnahme. Viel zu schwache Motoren gehören ebenso zum Standard wie die erbärmliche Qualität der Schlauchboote, die in China gefertigt, von den Schleuser-Ringen über Osteuropa und Deutschland an den Kanal gebracht und dort rettungslos überfüllt werden. „Hätte ich einen anderen Pass, könnte ich einfach ein Flugzeug oder Schiff nehmen“, sagt Adam Husain wütend. „Sie haben das Land zerstört, weil Saddam weg musste. Aber als er weg war, kam nicht das Paradies, wie sie uns gesagt hatten, sondern die Hölle. Unter Saddam empfing mein Vater immerhin regelmäßig und pünktlich sein Gehalt.“
Am Rand des distribution point steht eine Tafel mit allerlei Informationsmaterial auf Papier und zum Scannen und Downloaden. Ein New Arrival Guide klärt Neuankömmlinge in allerlei Sprachen über ihre juristische Situation in Großbritannien auf, und über die Risiken, die eine Kanalüberquerung mit sich bringt. Dazu gibt es die Notfall-Nummern der Küstenwache in französischem und britischen Gewässern. „Die Überfahrt nach Groß-Britannien ist sehr gefährlich“, heißt es. „Diese Information könnte ihr Leben retten.“
Zwei junge Afghanen, einer Anfang, der andere Mitte 20, sind soeben aus Paris angekommen, wo sie in einem anderen Geflüchteten-Camp lebten. Unter dem Arm tragen sie Schlafsäcke, die sie gerade von einer der Hilfsorganisationen bekamen. In der Hauptstadt wollten sie eine neue Existenz aufbauen, sie lernten Französisch, doch ihre Asylanträge wurden abgelehnt. Daher wollen sie es nun in England probieren. Ob sie schwimmen können? „Nein“, sagt der eine, und hängt zuversichtlich an: „Aber jemand sagte uns, dass sie einem Rettungswesten oder so etwas geben.“
Wie lebensgefährlich die Überfahrten sind, zeigt sich bereits in der übernächsten Nacht. Ein Schlauchboot, das schon weit draußen auf dem Kanal ist, verliert Luft, zahlreiche Passagiere landen im Wasser. Alarmiert von einem Patrouillenboot, bergen französische und britische Rettungsschiffe 72 Schiffbrüchige- das Schlauchboot war offenbar besonders drastisch überladen. Einer davon ist leblos und kann nicht mehr reanimiert werden. Ein auffälliges Detail: die Schiffe beider Anrainerstaaten bringen die Havarierten zurück nach Calais. Normalerweise setzen britische Retter*innen Schiffbrüchige in Dover ab.
Ein Schritt, der vor allem in Großbritannien aufmerksam registriert wird. Rechte Zeitungen wie The Telegraph mutmaßen, es könnte sich um ein Signal engerer Zusammenarbeit handeln, um die Überfahrten der small boats endlich zu stoppen- ein Ziel, das ausnahmslos alle Regierungschefs und ihre Innenministerinnen der letzten Jahre vollmundig in Aussicht stellten. Keir Starmer dementiert dies jedoch umgehend und betont, es sei eine rein operationelle Entscheidung, die nichts mit einer veränderten Strategie zu tun habe.
Doch auf einem Treffen mit europäischen Regierungschef*innen kündigt der Premier zugleich einen „reset“ der Bekämpfung illegaler Migration an. Das beinhaltet die Finanzierung von Projekten in Afrika und dem Nahen Osten, die diesem Ziel dienen. Und womöglich auch, jene, die über den Ärmelkanal ins Land versuchen zu kommen, an Orte jenseits der britischen Grenzen zu bringen, wo sie auf den Bescheid ihrer Asylanträge warten sollen. „Ich bin ein Pragmatiker, wir schauen, was am besten funktioniert“, so Starmer.
Wenig später gerät auf dem Kanal erneut ein Schlauchboot in Schwierigkeiten. Fünf Personen können aus dem Meer gerettet werden. Auf dem Boot selbst finden die Rettungskräfte allerdings eine verstorbene Person. Drei Havarien in einer Woche sind „beispiellos“, schreibt die Regionalzeitung La Voix du Nord, und zitiert Prémar, die Präfektur für Ärmelkanal und Nordsee. Diese macht „unzuverlässige und gleichzeitig überladene Boote, manchmal ohne Schwimmwesten, und in diesem speziellen Fall mit 86 Personen an Bord“ verantwortlich. Eine besondere Gefahr sei nun, dass „Menschen in den überfüllten Booten durch Ersticken oder Niedertrampeln sterben“.
Sichtbar ist diese Tendenz nicht erst seit diesem Sommer: bereits im September letzten Jahres starb eine junge eritreische Frau bei der Abfahrt ihres Bootes nahe Calais, weil sie zerquetscht wurde oder erstickte. Ende April dann kamen fünf Menschen ums Leben, die auf einem mit 112 Personen überladenen Boot zerquetscht wurden, das im Touristenstädtchen Wimereux nördlich von Boulogne in großer Eile ablegte. Unter ihnen befand sich ein siebenjähriges irakisches Mädchen.
Die Hintergründe dieser Entwicklungen erschließen sich, wenn man die Hilfsorganisation Utopia 56 in ihrem Hauptquartier außerhalb von Dunkerque aufsucht. Seit den Tagen des Jungle von Calais ist sie eine der präsentesten Akteure am Ärmelkanal, verteilt Essen, Decken und die schon erwähnten Informationen über Risiken der Kanalüberquerung. Zudem betreibt sie ein Alarmtelefon und fährt, wenn das Wetter entsprechend ist, nachts mit Teams von Freiwilligen die Küste zwischen Dunkerque und Boulogne ab, um bei Notfällen zur Stelle zu sein.
Célestin Pichaud ist einer von ihnen. Im Büro bringt er mit ein paar Laptop- Clicks aussagekräftige Grafiken und Statistiken zum Vorschein: „Im ersten Quartal dieses Jahres wurden 64 Prozent mehr Menschen auf See gerettet als im gleichen Zeitraum 2023“. Er bestätigt auch den Trend, dass die Boote immer überfüllter sind: „Letztes Jahr waren darauf im Durchschnitt 43,6 Passagiere. Dieses Jahr sind es 49,6.“ Je voller, desto riskanter wird eine Überfahrt- nicht nur auf See, sondern schon beim Ablegen.
Noch gefährlicher wird die Situation durch Personen, die sich die etwa 2.500 Euro teure Passage nicht leisten können und versuchen, aus einem Versteck am Strand in der Hektik des Moments an Bord zu drängen. Auch gewalttätige Polizei-Einsätze an Stränden spielen eine bedeutende Rolle, so Pichaud: „Im ersten Quartal wurden uns 166 Fälle gemeldet, verglichen mit 127 letztes Jahr.“ Durch die Angst vor der Polizei entstünde große Hast, wodurch es sein könne, dass übervolle Schlauchboote ohne Bodenplatte ablegten, was sie wesentlich instabiler mache.
Hinzu kommt eine geografische Besonderheit am populären Abfahrtsort Gravelines: die Passagiere werden häufig über das Flüsschen Aa mit sogenannten ´Taxi-Booten´ herangefahren, das hier in den Ärmelkanal fließt. „Am Strand kommt dann ein anderes, das sie aufnimmt. Doch im Mündungsbereich gibt es oft gefährliche Strömungen und Wellen, die gerade Nichtschwimmer*innen fatal werden können.“ All dies bedingt, dass sich zuletzt mehrere tödliche Unglücke beim oder kurz nach dem Ablegen ereigneten.
Zwei weitere Risikofaktoren sind das Wetter und die Entfernung nach England. Gerade wegen der harschen Bedingungen im Jungle- inklusive der Schießereien, die auch Pichaud bestätigt- sind Geflüchtete zunehmend bereit auch bei schlechterem Wetter oder in kürzeren Zeitfenstern mit passenden Bedingungen überzusetzen. Und dann ist da noch der sogenannte Wasserbetteffekt, den man am Ärmelkanal seit Jahren kennt: je stärker ein Teil der Küste überwacht wird, desto mehr verlagert sich das Geschehen an andere Orte. Das gilt besonders für den Olympia-Sommer 2024.
„Die Regierung schickt im Juli und August 300 zusätzliche Polizist*innen hierhin. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Boote nicht mehr nach England fahren. Sie suchen sich nur andere Abfahrtsorte, die womöglich weiter entfernt sind.“ Südlich von Calais, wo der Ärmelkanal am schmalsten ist, kann ein Boot britische Gewässer in zwei Stunden erreichen. Von Dunkerque dauert das leicht drei Mal so lang. In letzter Zeit gibt es mehr und mehr Abfahrten südlich von Boulogne-sur-mer. Im Mai wurden gar vor der Küste der Normandie 66 Frauen, Männer und Kinder aus Seenot gerettet. Der Abstand von Dieppe nach Brighton ist etwa viermal so lang wie der von Calais nach Dover.
Ende Juli wird bei einer Rettungsaktion im Morgengrauen vor der Küste von Calais erneut eine leblose Migrantin an Bord eines Schlauchboots gefunden. Im Krankenhaus von Boulogne, wohin sie per Hubschrauber gebracht wird, kann nur noch ihr Tod festgestellt werden. Mehr als 70 Menschen waren diesmal an Bord. Mitte August können nach dem Notruf eines Schlauchboots zwei weitere Personen nur noch tot geborgen werden. Bei vier Havarien innerhalb eines Monats sind damit insgesamt neun Menschen ums Leben gekommen.
Kurz zuvor hat die britische Regierung per Statement bekanntgegeben, man suche weiterhin „einen hochqualifizierten Border Security Commander um „ein Ende der gefährlichen Boot-Überfahrten“ zu erreichen. Auch erläutert sie, das BSC soll eine Kombination von Geheimdiensten und Vollzugsbehörden werden, „ausgestattet mit neuen, der Terrorismusbekämpfung ähnlichen Vollmachten“. Beteiligt daran würden „Hunderte von Mitarbeiter*innen, stationiert im Vereinigten Königreich und in Übersee“.
Bei den rassistischen Straßenprotesten, die sich im August rasendschnell durch Großbritannien verbreiten, spielt diese Gemengelage eine zentrale Rolle. Konservative Medien nehmen die Ärmelkanal-Politik der neuen Regierung ins Visier. „Über 4.000 Migrant*innen sind per Boot in Großbritannien angekommen, seit Sir Keir Starmer Downing Street 10 bezog“, schreibt der Daily Express nach tagelangen Ausschreitungen, und wirft dem Premier ein „riesiges Boots-Migrations-Versagen“ vor. Die Daily Mail klagt an: „Wo ist jetzt der Plan, die Boote zu stoppen?“, und zitiert James Cleverly, Innenminister im Schattenkabinett: „Wir wussten, dass Leute warteten, bis die Ruanda-Partnerschaft gestrichen wurde, um den Kanal zu überqueren. Das nutzen sie jetzt aus.“ Starmer und Innenministerin Yvette Cooper müssten die Sache dringend in die Hand nehmen- „und zwar schnell!“.
Die gewalttätigen Angriffe gegen Asylbewerber und Migrantinnen, begleitet von Parolen wie „get them out!“ oder „stop the boats!“ lassen derweil darauf schließen, dass das Thema in den kommenden Jahren weiterhin brisant bleibt- sowohl was das Potential für weitere Ausschreitungen angeht, als auch als politisches Pulverfass, das die Labour– Regierung unter gehörigen Druck setzt und ihr durch rechtspopulistische Agitation jederzeit um die Ohren fliegen kann. Mit dem Verweis, Schleuser-Netzwerke zu bekämpfen sei effektiver als ein Ruanda-Plan, wird sie dabei dauerhaft kaum wegkommen.
Gerade die jüngste Vergangenheit zeigt, dass dies ein sehr langwieriges Unterfangen ist, das trotz großer Anstrengungen nicht unbedingt sichtbaren Effekt hat. So wurden im Oktober 2023 20 Mitglieder eines kurdisch-irakischen Rings, der von Deutschland aus operierte, im belgischen Brügge zu Haftstrafen bis hin zu elf Jahren verurteilt. Die Bande, in britischen Medien als „Deliveroo des Menschenschmuggels“ bezeichnet, soll bis zu 10.000 Menschen über den Ärmelkanal gebracht und damit laut Europol 60 Millionen Euro verdient haben. Ob der zwischenzeitliche Rückgang der Bootspassagen 2023 damit zu tun hat, ist Spekulation. Fakt ist indes, dass die Zahlen nun fast wieder auf dem Niveau des Rekordjahres 2022 liegen.
Pünktlich zur Hochsaison der Überquerungen veröffentlichen mehrere französische NGO, die am Ärmelkanal im Einsatz sind, daher einen Aufruf: die Stop the boats– Politik erhöhe das Risiko, dass Menschen zerquetscht würden oder erstickten. Eine Einschätzung, die indirekt auch von der britischen National Crime Agency bestätigt wird. Dass Passagiere „vom Strand aus zu Booten hinaus waten oder von Taxi-Booten aus umsteigen, hat die Wahrscheinlichkeit von Todesfällen erhöht“, heißt es in einer Analyse.
Diese auffallende Einigkeit dieser düsteren Prognosen lässt an ein Lied denken, mit dem die britische Band New Model Army die Lage am Ärmelkanal schon 2016 beschrieb- also noch bevor die Überquerung mit Booten die Regel wurden. „Cross the water or die trying“ heißt es in dessen Refrain. Acht Jahre später hat sich daran wenig geändert- außer, dass die Grenzsicherung verstärkt, das Schleuser-Geschäft professionalisiert und wesentlich lukrativer wurde und die Risiken für Geflüchtete, die den Kanal überqueren, tödlicher. Für die im Spätsommer zu erwartende Zunahme der Passagen lässt das nichts Gutes erwarten.