In kurzer Folge dokumentieren wir momentan tödliche Situationen auf der Kanalroute, und auch die Anzahl der Opfer pro Zwischenfall nimmt deutlich zu. Nach dem Tod von zwölf Menschen am 3. September (siehe hier und hier) starben in den Nachtstunden des heutigen 15. September acht Exilierte bei einer gescheiterten Bootspassage nach Großbritannien.
Lokale Medien und die Seepräfektur (Préfecture maritime Manche et mer du Nord, kurz: Premar) berichten, dass sich das Unglück nördlich von Boulogne-sur-Mer zutrug. Demnach legte das havarierte Boot in der Nacht vom 14. zum 15. September im Bereich der Slack-Dünen zwischen Wimereux und Ambleteuse ab. Diese Dünen sind ein bekannter Ablegeort der Kanalroute. An Bord sollen sich etwa 60 Personen befunden haben.
Das Boot „geriet schnell in Schwierigkeiten und lief auf der Höhe des felsigen Vorlandes auf Grund“, so die Zeitung. Das Blatt zitiert den Präfekten des Departements Pas-de-Calais mit der Aussage, das Boot habe keinen stabilen Boden gehabt und die ganze Unterseite sei aufgerissen. Lokale Fischer weisen auf gefährliche Strömungen hin, die ein untermotorisiertes Schlauchboot bei Ebbe zu den Felsen abtreiben könnten.
Die regionale Seenotleitstelle CROSS Gris-Nez sei, so die Seepräfektur in ihrer Pressemitteilung, über das Ablegen des Schlauchbootes informiert worden und habe das Schiff Minck zur Beobachtung in das Küstengebiet geschickt. Als die Minck dort, habe man festgestellt, „dass das Boot auf den Strand von Ambleteuse zusteuerte“. Die Minck habe von See aus keine Hilfe leisten können.
Das CROSS Gris-Nez wurde „von einem der Passagiere des Bootes darüber informiert, dass sich am Strand leblose Personen in einer Notsituation befinden.“ Die Minck und ein Hubschrauber der französischen Marine hätten daraufhin auf See nach möglichen Schiffbrüchigen gesucht. Gleichzeitig wurde die Feuerwehr- und Rettungsleitstelle des Departements sowie die Gendarmerie alarmiert, um den Schiffbrüchigen am Strand zu helfen. Dort „versorgten die Rettungsdienste 53 Migranten und bestätigten trotz der geleisteten Notversorgung leider den Tod von acht von ihnen“, so die Seepräfektur. „Bei der Suche auf See wurde kein Schiffbrüchiger entdeckt.“
Sechs Menschen befinden sich im Krankenhaus, darunter ein Baby. Die anderen Überlebenden wurden von der Gemeinde Ambleteuse betreut und später von der Grenzpolizei zum Verhör nach Coquelles bei Calais gebracht. Die Staatsanwaltschaft von Boulogne-sur-Mer leitete Ermittlungen ein. Eine Autopsie der Leichen soll die genaue Todesursache klären.
Über die Identität der Toten ist bislang lediglich bekannt, dass es sich um Männer handelt. Die Presse berichtet unter Berufung auf den Präfekten des Departements Pas-da-Calais, dass die Passagier_innen des Bootes eritreischer, sudanischer, syrischer, afghanischer, ägyptischer und iranischer Nationalität waren.
Die Havarie ereignete sich in einer Phase, in der nach schlechtem Wetter besonders viele Boote übersetzten. Nachdem die britischen Behörden zwischen dem 9. und 13. September keine Ankünfte registrierten, waren es am 14. September, dem Vortag der Havarie, vierzehn Schlauchboote, in denen sich 801 Menschen befanden. Auf französischer Seite wurden laut Präfektur acht weitere Überquerungsversuche verhindert und etwa 200 Menschen auf See geborgen. Es war einer der meistfrequentierten Tage der Kanalroute im laufenden Jahr. „Die Bahnsteige und Straßenränder sind voll von Menschen, die bereit für den Versuch sind, nach England zu gelangen. Die günstigen Wetterbedingungen mit klarem Himmel und ruhigem Meer machen die Überfahrt verlockender, aber auch riskanter,“ beschreibt die in der Region von Boulogne-sur-Mer tätige Initiative Osmose 62 die Situation am Vortag der acht Todesfälle.
Nach der Zählung der Präfektur starben seit Jahresbeginn 46 Exilierte bei Bootspassagen. Diese Zahl liegt etwas über der von uns ermittelten Zahl von 43 Todesfällen bei Bootspassagen einschließlich Abelegemanövern, in der allerdings mehrere Vermisste und sehr wahrscheinlich tote Personen nicht enthalten sind. Hinzu kommen neun Todesfälle, die sich seit Jahresbeginn an Land in Nordfrankreich und Belgien ereigneten. Die Gesamtzahl der Todesfälle ist damit auf über 50 angestiegen. Mehrere Akteure und Medien teilen inzwischen die Einschätzung, dass 2024 das tödlichste Jahr der Kanalroute ist. „Der französische und der britische Staat müssen ihre Migrationspolitik sofort überdenken. Unsere Gedanken sind bei den Opfern dieser mörderischen Grenze“, schreibt die Calaiser NGO L’auberge des migrants einmal mehr.