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Channel crossings & UK

Grenzsicherheit mit Antiterror-Methoden

Das Border Security Command und die Re-Europäisierung der britischen Migrationspolitik

Am Tag ihres Amtsantritts, dem 5. Juli 2024, beendete die Labour-Regierung den Plan ihrer Vorgängerregierung, Geflüchtete nach der Überquerung des Ärmelkanals nach Ruanda zu verbringen. Auch der Illegal Migration Act, das gesetzgeberische Kernstück dieser Politik, wurde damit hinfällig. Aus den eingesparten Mitteln wird nun eine neue Institution geschaffen, um Polizei, Strafverfolgung und Nachrichtendienste zu bündeln: Das Border Security Command (BSC). Zugleich will die Regierung Starmer Antiterror-Methoden gegen Schleusungskriminalität anwenden und wieder stärker auf die europäische Zusammenarbeit setzen – voraussichtlich mit fatalen indirekten Folgen für die Exilierten auf der Kanalroute.

Die Geschichte der kanalübergreifenden Migration war immer auch eine Geschichte organisatorischer Veränderungen, mit denen Großbritannien – teils allein, teils mit Frankreich, teils mit anderen Staaten oder EU-Institutionen – Druck auf professionelle Schleuser_innen aufbaute. Gremien wurden etabliert und Geldmittel bereitgestellt, um ein ressort- und grenzübergreifendes Zusammenspiel der Behörden zu optimieren, während sich die Zahl der Ankünfte per small boat bei annähernd 30.000 Personen einpendelte. Daneben finanzierte Großbritannien mit immer höheren Summen die personelle und technologische Aufrüstung der französischen Küstenüberwachung. Zeitweise übertrug die Tory-Regierung die Federführung sogar auf das Militär (siehe hier). Nachfolgend schuf sie, nun wieder als zivile Einrichtung, das Small Boats Operational Command (siehe hier). Das neue Border Security Command ist eine Ebene höher angesiedelt: Es ist kein operatives Kommando in räumlicher Nähe zur Kanalroute, sondern ein strategisches Projekt mit europäischer Dimension.

Im Gegensatz zum schillernden Ruanda-Deal der Tories konzentriert sich die Labour-Regierung damit auf den historisch gewachsenen Kernbereich des Grenzregimes: die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden. Dies mag weniger populistisch erscheinen, zementiert aber eine Verengung des Blicks: Migration erscheint als Ausfluss schwerer Kriminalität; sie wird – um die hässliche populistische Konsensformel dieser Tage zu benutzen – per se illegal.

Das Konzept des Border Security Command spitzt die Fokussierung auf Kriminalität weiter zu, indem sie Schleusungen und Terrorismus miteiander verknüpft. Bereits während des Wahlkampfs hatte Labour diese Parallele gezogen und die Rolle der Nachrichtendienste im Rahmen des Border Security Command betont (siehe hier). Den rechtlichen Rahmen soll nun ein neuer Gesetzentwurf, die Border Security, Asylum and Immigration Bill, abstecken. Offenbar soll dieses Gesetz an die Stelle des Illegal Immigration Act der Vorläuferregierung treten, das mit dem Scheitern des Ruanda-Deals unpraktikabel wurde. Der genaue Inhalt des geplanten Gesetzes ist noch nicht bekannt. Doch heißt es in einer Pressemitteilung der Regierung, es solle „einschneidende staatliche Befugnisse einführen, welche die Gesetzgebung zur Terrorismusbekämpfung spiegeln und die Strafverfolgungsbehörden befähigen, diejenigen zu stören, gegen sie zu ermitteln und sie strafrechtlich zu verfolgen, die der organisierte Einwanderungskriminalität Vorschub leisten.“

Dies erweitert den Handlungsspielraum um einen besonders problematischen Grenzbereich staatlicher Befugnisse, denn die Antiterrorgesetzgebung eröffnet dem Staat aufgrund der außergewöhnich schweren Bedrohung durch Terrorakte einen Spielraum jenseits der bei anderen Vergehen geltenden rechtstaatlichen Schranken. Auf Migrationsrecht spezialisierte Anwält_innen weisen darauf hin, dass sich der künftige Anwendungsbereich von Antiterror-Methoden nicht auf die Kernakteure kommerzieller Schleusungen beschränken dürfte. Er könnte vielmehr „auch vorbereitende Straftaten umfassen, z. B. die Ermöglichung der Werbung für die Dienste einer Schleusergruppe und Vorfelddelikte einschließlich der Lieferung von Material zur Unterstützung von Banden der organisierten Kriminalität.“

Das Border Security Command ist eine Art hochrangige Task Force des Innenministeriums. Es koordiniert die Aktivitäten von Polizeibehörden wie der National Crime Agency (NCA), Nachrichtendiensten wie dem MI5 sowie die UK Border Force; auch Staatsanwaltschaften und das im Vorjahr geschaffene Small Boats Operational Command sind Teil der neuen Struktur. Der Leiter, genannt Border Security Commander, berichtet an die Innenministerin und wird in die strategische Planung der Regierung eingebunden. Keir Starmer unterstrich dies, indem den Namen des ersten Commander am 15. September während eines Besuch bei der italienischen Regierungschefin Meloni bekannt gab und diesen gleich auch persönlich mitnahm.

Die Stellenausschreibung für den Commander macht deutlich, dass das Border Security Command momentan noch nicht mehr als ein kleines Aufbauteam ist. Auch wird deutlich, dass es um mehr als die Bekämpfung der Schleusungen auf der Kanalroute gehen wird. Diese wird vielmehr nur als eine von mehreren Aufgaben neben der Bekämpfung anderer Formen der Organisierten Schwerkriminalität, der illegalen Einfuhr von Waren und des Terrorismus genannt. In der jetzt begonnenen Aufbauphase jedoch scheint, folgt man der öffentlichen Kommunikation der Regierung, die Migration im Mittelpunkt zu stehen.

Erster Border Secutity Commander ist Martin Hewitt, zuvor Vorsitzender des National Police Chief’s Council. In dieser Funktion, so die Regierung, „leitete er die strategische Koordinierung aller Polizeikräfte des Vereinigten Königreichs und spielte eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der nationalen Reaktionen auf große Sicherheitsbedrohungen wie Terrorismus, organisierte Kriminalität und illegale Migration. Seine Fähigkeit, Polizei, Strafverfolgungsbehörden, Nachrichtendienste und Regierungsstellen als Reaktion auf große Sicherheitsbedrohungen zusammenzubringen, war der Schlüssel zu seiner Ernennung“. Seine Fähigkeiten habe Hewitt „am deutlichsten“ bei der Reaktion auf die Covin-19-Pandemie unter Beweis gestellt.

Am 17. September kündigte das Innenministerium die Umschichtung von bis zu 75 Millionen Pfund (ca. 89,5 Millionen Euro) zu Gunsten des Border Securits Command an; die Gelder waren ursprünglich im Rahmen des Illegal Migration Act verplant gewesen. Das Ministerium begründete die Umschichtung mit „zu erwartenden Bemühungen der Schleuserbanden, immer mehr schutzbedürftige Menschen in seeuntaugliche Boote zu verfrachten, die bei schönem Wetter an der französischen Küste ablegen.“ Finanziert werden neben der personellen Ausstattung des Border Security Command auch „verdeckte Kameras und modernste Überwachungstechnologie“, die Schaffung einer „neuen Einheit zur Sammlung von Erkenntnissen aller britischer Polizeibehörden und zum Informationsfluss an die Partner“ sowie verstärkte Bemühungen „in den Transitländern, um zu verhindern, dass die Ausrüstung von small boats die französische Küste erreicht“.

Weiterhin teilte die Regierung mit, sie habe die Zahl der bei Europol stationierten britischen Beamt_innen aufgestockt und mit der Einstellung von 100 spezialisierten Ermittler_innen begonnen. Diese sollen „gegen diese kriminellen Netzwerke und ihre Lieferketten vorgehen und auch Boote und Motoren beschlagnahmen“. Innenministerin Cooper sprach in diesem Zusammenhang von „neuen Strafverfolgungspartnerschaften in ganz Europa“.

Die Regierung Starmer dürfte also sehr viel enger mit europäischen Regierungen und der EU kooperieren als die Tories. In der ersten Septemberhälfte erörterten Kabinettsmitglieder und „Strafverfolgungspartnern“ unter dem Dach der National Crime Agency die „weitere Zusammenarbeit mit europäischen Partnern“. Als Beispiel nannte die Regierung das Abfangen von 40 Booten und Motoren in Zusammenarbeit mit Bulgarien. Dies sei lediglich „eine von 70 Live-Operationen, die die NCA derzeit mit internationalen Partnern durchführt.“

Einen wichtigen Rahmen für die Zusammenarbeit mit europäischen Partnern bot in der Vergangenheit der Aktionsplan EMPACT (European Multidisciplinary Platform Against Criminal Threats), bei dem unter der Leitung von Europol verschiedene EU- und Drittstaaten in sogenannten Operational Task Forces ein klar umrissenes Ermittlungsprojekt verfolgen. 2022 und 2024 mündete dies in grenzübergreifenden Großrazzien gegen die Infrastruktur einer am Ärmelkanal aktiven irakisch-kurdischen Schleuserorganisation, deren Schwerpunkt jeweils in Deutschland lag (siehe hier und hier). Soweit bekannt, hatte die konservative Vorgängerregierung ihr Engagement auf dieser Ebene reduziert, was sich nun wieder ändern dürfte.

Auch die seit 2021 bestehende Zusammenarbeit Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, Belgiens und der Niederlande in der sogenannten Calais Group soll wieder an Bedeutung gewinnen. Auf der Pessekonferenz anlässlich seines Besuchs beim deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz sprach Starmer am 28. August von der Zusammenarbeit
„bei der illegalen Migration“. Beide Regierungschefs hätten „substantielle Gespräche darüber geführt, wie wir gegen die Schleuserbanden vorgehen können“, und sich darauf geeinigt, „einen gemeinsamen Aktionsplan zur Bekämpfung der illegalen Migration zu entwickeln. Wir werden also unser Engagement für die Calais-Gruppe erneuern“.

Momentan jedoch stellt Starmer den Schulterschluss mit Italien in den Vordergrund. Die Bekanntgabe Martin Hewitts als erster Border Security Commander erfolgte, wie schon gesagt, im Rahmen von Gesprächen mit der rechtsextremen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Dabei zeigte sich Starmer, so britische Medien, interessiert an der italienischen Migrationspolitik einschließlich der Auslagerung der Asylverfahren nach Albanien. Eine gemeinsame Erklärung Starmers und Melonis hebt die Bedeutung des Border Security Command hervor. Der Passus liest sich wie eine Blaupause für die künftige Zusammenarbeit Großbritanniens mit seinen europäischen Partnerländern:

„Wir werden unsere grenzüberschreitende Zusammenarbeit deutlich verstärken, unter anderem durch das neue britische Border Security Command […]. Zu diesem Zweck werden wir eine verstärkte bilaterale Zusammenarbeit bei den Ermittlungskapazitäten fördern und die zuständigen Behörden in den Herkunfts-, Transit- und Zielländern einbeziehen. Wir werden den Datenaustausch fördern und verbessern. Wir werden einen ‚Follow-the-money‘-Ansatz verfolgen, um die Zusammenarbeit beim Einfrieren und der Beschlagnahme von Vermögenswerten zu verbessern, und streben die Einrichtung einer gemeinsamen Task Force zur Bekämpfung illegaler Finanzströme an. Wir sind entschlossen, die Lieferketten von maritimem Equipment, das die Sicherheit unserer Grenzen untergräbt, weiter zu zerschlagen. […] Wir werden auch die Möglichkeiten ausschöpfen, europäische und globale Partner zusammenzubringen, wenn möglich auch über Europol und INTERPOL […] Wir verpflichten uns auch zur Zusammenarbeit bei der Sensibilisierung und Information potenzieller Migranten über die mit der Schleusung […] und dem Menschenhandel verbundenen Risiken, um sie davon abzuhalten, sich auf gefährliche Routen zu begeben.“

Diese Liste umfasst wenig, was nicht bereits von den Vorgängerregierungen unterhalb des populistischen Getöses um den Ruanda-Deal betrieben worden wäre. Es wird sich zeigen, inwieweit London auf dieser Geschäftsgrundlage ein neues Gefüge von Vereinbarungen mit EU-Staaten und der EU selbst zustande bringt, insbesondere mit dem direkten Nachbarn am Kanal: Frankreich unter der neuen Regierung des früheren Brexit-Verhandlungsführers Michel Barnier.

Auch wenn all dies noch nicht Realität ist, zeichnen sich Grundlinien der künftigen britischen Politik: Fokussierung auf kommerzielle Schleusungen, Re-Europäisierung der Maßnahmen und Anwendung von Antiterror-Methoden. Dies eröffnet zweifellos neue Möglichkeiten, gegen schwerkriminell agierende Schleuser zu ermitteln, liefert zugleich jedoch Andockflächen für eine populistische Verknüpfung von Migration, Illegalität und Terrorismus.

Um diese Politik zu legitimieren, bezieht sich die neue Regierung auf das moralische Gebot, Menschenleben zu retten, auch und gerade durch die Unterbrechung der Lieferketten für die Boote. Diese Argumentation steht jedoch im Gegensatz zur brutalen Realität auf der Kanalroute: Zwar hat der Verfolgungsdruck in den vergangenen Jahren die Anzahl der Boote abgesenkt, nicht aber die Anzahl der Passagier_innen. Die Folge ist eine fortschreitende Überladung der Boote, deren Ablegen aufgrund der stärkeren Küstenüberwachung außerdem hektischer vonstatten geht. Infolgedessen sterben momentan so viele Menschen auf der Kanalroute bei so vielen tödlichen Zwischenfällen wie noch nie seit dem Beginn der Bootspassagen vor sechs Jahren. Der aktuelle Situation zeigt daher auf brutale Weise, dass die gewählte Strategie weniger zur Rettung von Menschenleben, sondern zu ihrem Verlust beiträgt. Der in London nun eingeschlagene Weg dürfte diesen Zustand leider noch weiter verfestigen.