Kategorien
Calais

Pöbeln, drohen, filmen: UKIP in Calais

Videos von Nick Tenconi aus Calais und Foto aus Gravelines, veröffentlicht am 5.-7. Juni 2025. (Quelle: Instagram / Nick Tenconi)

Eine Gruppe britischer Rechtsextremisten um Nick Tenconi, den Anführer der UK Independence Party (UKIP), provozierte 4. Juni 2025 an einer Verteilungsstelle für Nahrung und Hilfsgüter in Calais. Aggressiv auftretend, drohte er Geflüchteten, provozierte Helfer_innen und filmte die Szene für eine Spendenkampagne, die weitere Aktionen in Nordfrankreich ermöglichen soll. Ob dies gelingt, ist zweifelhaft, doch rückt die Kanalroute stärker in den Fokus der extremen Rechten.

Über den Auftritt des UKIP-Anführers in Calais berichten sowohl lokale NGOs als auch Tenconi selbst. Dieser postete bis zum Abend des 9. Juni drei Videos aus Calais, die ähnliche Szenen zeigen und am östlichen Rand der Stadt aufgenommen wurden. Dort verteilte ein lokales Projekt SIM-Karten an Geflüchtete in einer Halle, in dem 250 bis 300 Menschen lebten, und eine traditionsreiche lokale NGO versorgte die Geflüchteten mit einem Frühstück, als Tenconi mit fünf weiteren Männern auftauchte. Auf Bildmaterial von NGOs ist die Gruppe zu sehen.

In seinen eigenen Videos wird Tenconi mit nur einem Begleiter gezeigt. Er trägt schwarzes T-Shirt, schwarze Basecap und schwarze Handschuhe. Kleidung und Gestik zielen auf Einschüchterung, aber in erster Linie inszeniert sich Tenconi offensichtlich für die Gefolgschaft auf seinen social media-Kanälen.

Auf einem der Videos ist zu sehen, wie Tenconi mit dem Megafon einen sirenenartigen Lärm erzeugt, als er zu der Halle geht. In der Nähe angekommen, richtet er das Megafon auf die Geflüchteten und fragt, ob sie nach Großbritannien wollten, und ruft, ohne auf eine Antwort zu warten: „You’re not welcome in Britain“. Tenconi droht damit, alle zu filmen und die Aufnahmen der britischen Regierung (in einem anderen Video: dem britischen Geheimdienst) zu übergeben: „Each and every one of you, we have your faces“. (Tatsächlich kann er in der gegebenen Zeit keine Aufnahmen in größerer Zahl angefertigt haben.) Es folgen verleumderische Behauptungen gegen die Gefüchteten, dann gegen die Zivilgesellschaft: „You work with the traffickers. The NGO’s work with the traffickers“. Letzteten unterstellt er, sie seien Kommunist_innen. Währenddessen sind zwei couragierte ältere Damen hervorgetreten, verweisen Tenconi resolut des Platzes und kündigen an, die Polizei zu alarmieren. Tenconi verschärft seinen Ton und verlangt von den Geflüchteten: „Let’s see your passports“. Sein Auftreten scheint spätestens jetzt darauf angelegt, eine körperliche Auseinandersetzung zu provozieren. Als sich eine Person empört, fordert er den Mann zum Kampf. Kurz darauf ruft er den Geflüchteten entgegen: „You’re protected by women and NGOs“, macht sich über ihre Ehefrauen lustig und lacht darüber, dass sie nicht in Frankreich bleiben wollten. Während all dies geschieht, reagieren die Geflüchteten und die NGOs besonnen.

L’Auberge des migrants schildert das Geschehen ähnlich, erwähnt aber zusätzlich grobe Beleidungen gegen Mitarbeiter_innen eines Projekts und eine geradezu bizarre Äußerung Tenconis, die in seinem Video ebenfalls fehlt: Er behauptete, Nordfrankreich sei britisches Territorium.

Ein zweites Video zeigt ein ähnliches Vorgehen, allerdings treffen Tenconi und seine Begleiter nur wenige Personen an, darunter Mitarbeiter der NGO La vie active, und setzen sich vehement über das klar ausgesprochene Verbot zu filmen hinweg. Schnitt. Tenconi sitzt im Anzug vor einem offenen Kamin in einem abgedunkelten Zimmer, gibt den seriösen Politiker und wirbt um Unterstützung.

Auf seinem X-Account drohte Tenconi zusätzlich mehreren lokalen Organisationen: „We will be exposing trafficker-enabling organisations posing as charities. @Care4Calais @AubergeMigrants and ‚La Vie Active‘“. Gleichzeitig wiederholte er die bekannte Verschwörungstheorie, NGOs, Antifaschist_innen und Kommunist_innen würden mit Schleuser_innen zusammenarbeiten, um Großbritannien mit Geflüchteten zu „fluten“.

Zusätzlich zu seinen Videos postete Tenconi das Foto eines knienden Mannes mit Halbglatze – offenbar er selbst – vor einem Kruzifix am Strand von Grand-Fort-Philippe in der Gemeinde Gravelines. Dieser Strand zwischen Calais und Dunkerque ist einer der zahlreichen Abfahrorte der Schlauchboote. Tenconi schriebt dazu: „On the beach of Grand-Fort-Philippe, Calais, we studied the route the traffickers take the illegals through to deploy into the channel. We turned around to find our Lord. I will remind Christians there is a special rung in hell for cowards.“ Tenconi inszeniert seine Hassbotschaft damit als religiöses Erweckungserlebnis, so als habe Gott ihm ein Zeichen gegeben, und adressiert damit auch die religiöse Rechte.

Religiöse Überhöhung einer rechtsextremen Aktion: Tweet von Nick Tenconi mit einem Foto von der Küste bei Gravelines, 4. Juni 2025. (Quelle: X / Nick Tenconi)

Es ist nicht das erste Mal, dass rechtsextreme britische Medienaktivisten in Nordfrankreich agieren, so etwa
Alan Leggett alias Active Patriot kurz nach den rassistischen Ausschreitungen, die im August 2024 Großbritannien erschütterten (siehe hier). Allerdings weist InfoMigrants zurecht darauf hin, dass es nun zum ersten Mal der Chef einer rechtsextremen Partei war. Auch die beschriebenen Videos sind mit dem Schriftzug UKIP versehen und können daher als parteioffiziell angesehen werden.

Nach eigener Darstellung war die Calais-Reise der Auftakt für eine Kampagne namens UKIP’s Border Protecting Mission, für welche die Partei seit dem 6. Juni Spenden in Höhe von 50.000 Pfund einzuwerben versucht. Im Spendenaufruf bezieht sich die Partei auf eine „erste Operation in Nordfrankreich“, bei der man „mit der französischen Polizei zusammengearbeitet“ habe, „um Boote aufzuspüren und an der Überfahrt über den Ärmelkanal zu hindern“. UKIP sagt nicht explizit, welche Aktion gemeint ist, aber es liegt nahe, dass es um die Pöbeleien vom 4. Juni geht. Dass es dabei zu einer Zusammenarbeit mit der französischen Polizei gekommen sei, ist nicht glaubhaft.

Großspurig erweckt die Partei den Eindruck, sie könne bei entsprechendem Spendenaufkommen zu einem Teil des Grenzregimes werden und gemeinsam mit anderen rechtsexremen Gruppierungen faktisch hoheitliche Aufgaben wahrnehmen. Dies dürfte ein Fall taktisch eingesetzter Selbstüberhöhung sein, deutet aber künftige Kampagnen der extremen Rechten an. Demnach habe UKIP’s Border Protecting Mission zwei Ziele:

Auszug aus dem rechtsextremen Spendenaufruf „UKIP’s Border Protection Mission“, Juni 2025.

Erstens scheint UKIP eine häufigere und idealerweise ständige Präsenz in Nordfrankreich anzustreben, möglicherweise um nach ablegenden Booten Ausschau zu halten und diese an französische Behörden zu melden. Zweitens sucht UKIP offenbar die Zusammenarbeit mit lokalen Partner_innen, um gegen etwas vorzugehen, das sie als Ursache illegaler Migration bezeichnet. Was damit konkret gemeint ist, wird offen gelassen. Die Calaiser Pöbeleien und die dabei artikulierten Verschwörungserzählungen lassen jedoch an erneute Einschüchterungsversuche gegen Geflüchtete und an Attacken gegen zivilgesellschaftliche, humanitäre oder linksgerichtete Gruppen denken, eben weil UKIP ihnen die Schuld an der Migration zuschreibt. Nach dem Start der Spendenkampagne warb Tenconi auf X dafür, „Teams britischer Männer zur Sicherung unserer Grenze zu Nordfrankreich zu entsenden.“ Sein drittes und bisher jüngstes Video ist aggressiv gegen zivilgesellschaftliche und humanitäre Hilfe gerichtet:

Video von Nick Tenconi aus Calais, veröffentlicht am 8. Juni 2025. (Quelle: Instagram / Nick Tenconi)

Tenconis Kampagne erscheint in ihrer Zielsetzung undurchführbar, dürfte aber zu weiterem Hass aufstacheln. Auch in finanzieller Hinsicht konnte UKIP in den ersten Tagen der Spendenkampagne lediglich Kleinspenden einwerben (Stand 8. Juni: insgesamt knapp 2.000 Pfund). Möglicherweise verpufft die Kampagne ähnlich wie die von Alan Legett vor einem Jahr. Gleichwohl sollte die weitere Entwicklung aufmerksam beobachtet werden. Denn Tenconi pöbelte in einem politischen Kontext, in dem die britische Rechte eine realistische Chance zur Übernahme der Macht sieht, wenn auch in Gestalt von Reform UK und nicht von UKIP. Bereits während der Ausschreitungen im August 2024 haben Falschmeldungen über Channel migrants eine wichtige mobilisierende Rolle gespielt. Angesichts der rechtsextremen Erfolge bei den britichen Regionalwahlen im April 2025 verschärfte auch die Londoner Regierung ihre Rhetorik, bis hin zu Keir Starmers äußerst problematischer Aussage, er habe Verständnis für Wut auf die Migrant_innen, die über die Kanalroute einreisen. Auch internationale Faktoren wie der beispiellose Einsatz des US-amerikanischen Militärs gegen antirassistische Proteste in Los Angeles dürfte Akteure wie Tenconi in ihrem Auftreten bestärken.

Wie l’Auberge des migrants mitteilt, wurde die Provokation umgehend an Präfektur und Staatsanwaltschaft gemeldet. Auf Anfrage französischer Medien teilte der zuständige Staatsanwalt mit, dass „die Aufmerksamkeit der Polizei auf die Anwesenheit der gemeldeten Personen gelenkt wurde“. Ansonsten reagiert l’Auberge des migrants mit Humor und klärte Tenconi über zwei Sachverhalte auf: Erstens sei die britisch besetzte Stadt Calais bereits im Jahr 1558 befreit worden, und zweitens arbeite die von ihm attackierte NGO La vie active im Auftrag der französischen Behörden. „Die französische Regierung wird sich also freuen, wenn sie erfährt, dass sie mit den Schleusernetzwerken zusammenarbeitet!“ Aber auch l’Auberge des migrants sagt klar: „Die extreme Rechte ist keine ferne Bedrohung mehr, ihre Ideen haben sich weit über die Sphären hinaus ausgebreitet, auf die sie bis vor einigen Jahren beschränkt waren.“