Zum Gipfeltreffen von Emanuel Macron und Keir Starmer
Während des britisch-französischen Gipfels in London kündigten die Regierungschefs beider Staaten, Keir Starmer und Emanuel Macron, weitere Maßnahmen gegen die Migration auf der Kanalroute an: Erstens sollen Einsätze von Polizei bzw. Gendarmerie gegen Schlauchboote im küstennahen Gewässer legalisiert werden. Zweitens soll ein Rücknahmeabkommen getestet werden, nach dem eine Anzahl von Channel migrants nach Frankreich abgeschoben werden kann und Großbritannien im Gegenzug andere Asylsuchende aus Frankreich aufnimmt. Das Vorhaben gleicht einer kleinen Version des EU-Türkei-Deals von 2016. Unter dem Eindruck eines erstarkenden Rechtsextremismus in seinem Land präsentierte Starmer dies als einen migrationspolitischen Durchbruch. Aber trifft das zu?
Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz sprach Starmer am gestrigen 10. Juli von der „illegalen Migration“ als einer „Krise für unsere beiden Nationen“ und als „Krise des Rechts, der Sicherheit, der Humanität – und der Fairness“. Man habe es „mit einem ausufernden, milliardenschweren Unternehmen zu tun, das von organisierten kriminellen Banden betrieben wird und Hunderten Menschen im Ärmelkanal den Tod bringt.“ Beide Staaten müssten diesen „abscheulichen Handel“ beenden, aber: „There is no silver bullet here.“
Dennoch, so versprach Starmer, könne man die Situation umkehren, und zwar durch ein „bahnbrechendes Pilotprojekt“ beider Staaten: Ein Rückführungsverfahren nach der Formel One out, one in. Wörtlich erklärte er:
„For the very first time, migrants arriving via small boat will be detained and returned to France – in short order. In exchange for every return, a different individual will be allowed to come here via a safe route, controlled and legal, subject to strict security checks and only open to those, who have not tried to enter the UK illegally. This will show others trying to make the same journey that it will be in vain. And the jobs they’ve been promised in the UK will no longer exist –because of the nationwide crackdown we’re delivering on illegal working – which is on a completely unprecedented scale. The [French] President and I have agreed that this pilot will be implemented in coming weeks.“
Großbritannien werde Geflüchtete, die per Schlauchboot die Grenze passiert haben, also inhaftieren und nach Frankreich abschieben, dafür aber eine andere Person aus Frankreich in einem legalen Verfahren aufnehmen. Sehr deutlich wird, dass diese sichere und legale Route allen verschlossen sein soll, die auf einem Schlauchboot eingereist sind, denn das Verfahren soll der Abschreckung dienen. Mit dem Verweis auf die Bekämpfung irregulärer Beschäftigung schlägt Starmer die Brücke zu einem innenpolitischen Maßnahmenpaket, dass seine Regierung im Frühjahr auf den Weg gebracht hat und das unter anderem scharfe Sanktionen gegen Arbeitgeber_innen beinhaltet. Stillschweigend ordnet Starmer die Channel migrants damit pauschal der Arbeitsmigration zu, obschon die meisten von ihnen klassische Fluchtgründe geltend machen können, und sprach ihnen damit die Eigenschaft ab, „echte“ Asylsuchende zu sein.
In einer gemeinsamen schriftlichen Erklärung beider Regierungschefs vom selben Tag sind weitere Details festgehalten. Demnach begreifen beide Seiten es als einen Modellversuch, der nach dem „Grundsatz der Gleichwertigkeit zwischen der Anzahl der Rückübernahmen nach Frankreich und der Anzahl der legalen Einreisen nach Großbritannien“ funktionieren soll. Die Finalisierung und Unterzeichnung eines entsprechenden Abkommens stehe jedoch unter dem Vorbehalt einer rechtlichen Prüfung durch die EU, da es eine EU-Außengrenze betrifft. Die geplante Einführung soll von einem Monitoring in Echtzeit begleitet sein. Starmer und Macron erinnern in diesem Zusammenhang an den EU-Gipfel vom 19. Mai 2025, an dem Großbritannien erstmals seit dem Brexit teilgenommen hatte und in dessen Abschlusserklärung in vagen Worten auch eine Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Migration auf dem Ärmelkanal angesprochen wurde. Der jetzt angekündigte Migrationsdeal soll vermutlich den Boden für weitergehende Vereinbarungen mit der EU ebnen.
Medienberichten zufolge plant die britische Regierung etwa 50 solcher Abschiebungen pro Monat, was etwa 2.600 Personen pro Jahr betreffen würden. Allerdings haben zwischen dem 1. Januar und 9. Juli dieses Jahres bereits 21.117 Menschen den Ärmelkanal in Schlauchbooten überquert. Das angekündigte Verfahren würde also nur einen Bruchteil der Channel migrants betreffen. Auf den Zeitraum seit Jahresbeginn umgerechnet, wären dies etwa 6 Prozent. Für eine größere Zahl dürften kaum Haftkapazitäten bereitstehen, und ob eine Inhaftierung der juristischen Anfechtung standhalten würde, ist ohnehin völlig offen. Es ist also eher nicht davon auszugehen, dass der Deal eine durchschlagende Wirkung auf das Migrationsgeschehen am Ärmelkanal entfalten kann.
Das angekündigte Verfahren erinnert an den Migrationsdeal zwischen der EU und der Türkei von 2016, der die Migration über das Ägäische Meer verringern sollte. Er erinnert aber auch an das Dilemma, in das Großbritannien durch den Brexit und das damit verbundene Ausscheiden aus dem Geltungsbereich des EU-Dublin-Systems geraten war; dieses System hatte bis dahin innereuropäische Abschiebungen – etwa nach Frankreich – ermöglicht. Im Herbst 2020 versuchte die britische Regierung daher, unter dem Namen Operation Sillath noch möglichst viele Geflüchtete in die EU abzuschieben (siehe hier), verfehlte jedoch das selbst gesteckte Ziel von 1.000 Abschiebungen. Die Operation und die martialische Rhetorik, die sie begleitete, hatten keinen erkennbaren Einfluss auf die Bootspassagen und das Geschäftsmodell von Schleusern. Ähnliches gilt für alle seither getroffenen Maßnahmen.
Neben dem Rückführungsexperiment benannte Starmer noch eine weitere Maßnahme: Er begrüßte den Einsatz französischer Polizei bzw. Gendarmerie gegen Schlauchboote im Küstengewässer – ein riskantes Vorgehen, das in den vergangenen Wochen bereits vereinzelt dokumentiert wurde (siehe hier und hier). Auf der schon zitierten Pressekonferenz sagte er:
„Just look at the steps the French Government is planning, subject to their ongoing Maritime review, to allow their officers to intervene in shallow waters and prevent more boats from launching. This is a big step. I want to thank the [French] President for driving it through.“
Es dürfte nach dieser Ankündigung nur noch eine Frage der Zeit sein, bis Frankreich das bislang illegale Aufbringen der Boote auf See legalisieren wird. Wir haben an dieser Stelle bereits darauf hingewiesen, dass lokale französische NGOs in diesem Fall einen Anstieg gefährlicher und tödlicher Situationen befürchten. Auch eine gewerkschaftliche Vertreterin der französische Polizei aus Lille äußerte gegenüber Reuters die Befürchtung, Kolleg_innen könnten wegen des Todes von Migrant_innen strafrechtlich belangt werden oder selbst sterben, wenn sie mit schwerem Equipment im Wasser operieren müssten.
Letztlich kündigten Starmer und Macron also zwei Maßnahmen an, deren Umsetzung aus verschiedenen Gründen (einer ausstehenden Prüfung durch die EU einerseits und einer noch erforderlichen Änderung der französischen Einsatzrichtlinien andererseits) noch nicht gesichert ist. Beide Maßnahmen werden voraussichtlich die humanitäre und menschenrechtliche Situation auf der Kanalroute verschlechtern, diese aber nicht grundlegend verändern. Für die betroffenen Menschen können sie fatal sein.
Der Gipfel machte noch etwas anderes deutlich: Offenbar ist es beiden Politikern nicht gelungen, die in der Vergangenheit regelmäßig getroffenen Vereinbarungen zum Ausbau und zur Finanzierung des beiderseitigen Grenzregimes fortzuschreiben. Gerade diese stellten aber das Rückgrat der vorgelagerten britischen Migrationspolitik in Nordfrankreich dar (siehe etwa hier, hier und hier). Zu Beginn des Jahres war es beiden Seiten lediglich gelungen, ein Auslaufen der Vereinbarungen abzuwenden (siehe hier). Die gemeinsamen Erklärung zum aktuellen Gipfel wiederholt lediglich diese provisorische Lösung: Großbritannien habe „seine Zusage bekräftigt“, bestehende Maßnahmen auf See, bei der Strafverfolgung und bei der Vorfeldbekämpfung von Schleusungen weiter zu fininanzieren. Dies solle bis März 2026 auf der Grundlage der bestehenden finanziellen Vereinbarung erfolgen und für die Jahre 2026-29 soll „schnellstmöglich“ ein finanzieller Rahmen vereinbart werden. Genau soweit waren beide Staaten bereits im Winter.