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Channel crossings & UK

„Operation Sillath“ und die Abschiebung von Bootsflüchtlingen

Ein Zwischenfazit

Abschiebung eines sudanesischen Mannes von Großbritannien nach Rennes (Frankreich) am 1. Oktober 2020. (Foto: Corporate Watch)

Nach der Ankündigung der britischen Regierung im Spätsommer, möglichst viele der Geflüchteten abzuschieben, die den Ärmelkanal in Schlauchbooten passiert hatten (siehe hier), zeichnen sich die Konturen dieser Operation nun genauer ab. Zugleich ist es immer fraglicher, ob die Regierung ihr Ziel von mindestens 1.000 Abschiebungen tatsächlich wird erreichen können.

Die Massenabschiebungen waren unter der Bezeichnung „Operation Sillath“ monatelang durch das britische Home Office (Innenministerium) vorbereitet worden (siehe hier und hier). Im August wurden sie erstmals nach Frankreich und Deutschland durchgeführt. Den rechtlichen und administrativen Rahmen hierfür bildet die Dublin-Verordnung der EU, allerdings wird Großbritannien auf diese Möglichkeit wohl nur noch bis zum Ende der Brexit-Übergangsphase am 31. Dezember 2020 zurückgreifen können.

Corporate Watch, eine Initiative britischer Investigativjournalist_innen, verfolgt die „Sillath“-Abschiebungen seit Beginn und hat am Beispiel eines Abschiebeflugs nach Deutschland und Frankreich am 26. August massive Selbstverletzungen und Suizidversuche der Betroffenen, gewalttätiges Verhalten des Wachpersonals und das Unterlaufen des Flüchtlingsschutzes während des Anerkennungsverfahrens herausgearbeitet (siehe hier). In Zusammenarbeit mit Aktivist_innen der Calais Migrant Solidatity hat Corporate Watch nun eine weitere Untersuchung veröffentlicht, in der es um die weitere Entwicklung sowie die Rolle der Fluggesellschaft Hi Fly Malta geht.

Demnach wurden seit August im Rahmen der „Operation Sillath“ Menschen aus Syrien, Sudan, Irak, Iran, Kuwait, Afghanistan, Jemen und Guinea-Bissau abgeschoben, und zwar jeweils in das EU-Land, das gemäß der Dublin-Regularien für ihr Asylverfanren zusändig ist. Die Journalist_innen stellten fest, dass „die ‚Operation Sillath‘-Flüge normalerweise jeden Dienstag- und Donnerstagmorgen stattfinden und jeder Flug bis zu 30 Abzuschiebende sowie vier Wachleute pro Person umfasst.“ Die Flüge starten am Stansted Airport; verwendet werden Charterflugzeuge der Firmen TITAN und Hi Fly Malta.

Corporate Watch hat unserem Blog weitere Informationen über die seit August durchgeführten Flüge zur Verfügung gestellt. Demnach sind zwischen dem 12. August und dem 8. Oktober zwölf Abschiebeflüge dokumentiert, von denen zwei durch anwaltliche Intervention gestoppt werden konnten bzw. abgesagt wurden. Die übrigen Flüge steuerten jeweils ein oder zwei Zielländer an und gingen nach Frankreich (5 mal), Deutschland (4 mal), Spanien, Italien, Litauen (je 2 mal), Ungarn, Finnland und Schweden (je 1 mal). Zielflughäfen in Deutschland waren Frankfurt (12. August, 15. September), Düsseldorf (26. August, siehe hier) und Hannover (22. September). Ein weiterer Flug am 6. Oktober, dessen deutscher Zielflughafen nicht bekannt ist, steuerte danach Ungarn an. In den übrigen Fällen wurden neben der Landung in Deutschland Ziele in Frankreich (Toulouse, Clermont-Ferrand, Bordeaux) und Litauen (Vilnius) angeflogen.

Weitere Flüge wurden von britischer Seite außerdem für den 13. Oktober (nach Schweden und Rumänien) und den heutigen 15. Oktober (nach Frankreich, Spanien und Polen) angekündigt.

Dublin-Abschiebungen von Großbritannien nach Deutschland und in andere EU-Länder hat es auch in der Vergangenheit gegeben. Insofern dürfte die „Operation Sillath“ vor allem darauf abzielen, ihre Zahl, fokussiert auf die Channel migrants, durch die Aushebelung des rechtlichen Schutes zu erhöhen. Corporate Watch sieht in der Operation zudem „eine Reaktion auf die mediale Aufregung diesen Sommer über die Migrant_innen, die versuchten in kleinen Booten über den Kanal Zugang zum Vereinigten Königreich zu finden.“ Sillath erscheint insofern auch als eine symbolpolitische Operation, die auch und gerade die rechte britische Boulevardpresse adressiert.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welchem Umfang „Operation Sillath“ die Praxis der Dublin-Abschiebungen tatsächlich verändert und ob die angekündigte Zahl von 1.000 überhaupt realistisch ist.

In Bezug auf Deutschland ergibt sich für die vergangenen beiden Jahre folgendes Bild: Im Jahr 2018 richtete Großbritannien insgesamt 939 sogenannte Dublin-Übernahmeersuchen an die Bundesrepublik Deutschland. In 460 Fällen stimmten die deutschen Behörden der Überstellung, also der Abschiebung, zu. Tatsächlich abgeschoben wurden dann 30 Menschen (vgl. Bundestags-Drucksache 19/3840).

Entsprechende Zahlen für das Gesamtjahr 2019 liegen nicht vor, jedoch einzelne Quartalsdaten: Im ersten Quartal 2020 betrug die Zahl der britischen Übernahmeersuchen an Deutschland 246, der Zustimmungen 108 und der Abschiebungen 12. Im zweiten Quartal 2020 entfielen auf 441 Übernahmeersuchen 158 Zustimmungen und keine einzige Abschiebung (vgl. Bundestags-Drucksache 19/22405). Insgesamt mündeten also lediglich null bis sechs Prozent der Übernahmeersuchen tatsächlich in einer Abschiebung. Übertragen auf die Sillath-Abschiebungen, für die Deutschland das zweitwichtigste Zielland ist, dürfte es daher von Anfang an fraglich gewesen sein, ob die britische Regierung ihre Absicht würde realisieren können.

Ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Situation wirft ein Fall vom 1. Oktober 2020:

Tweet des Journalisten Paraic O’Brien über die Abschiebung einer einzigen Person nach Rennes am 1. Oktober 2020. (Screenshot: Twitter)

An diesem Tag verließ lediglich ein einzelner Mann den für die Abschiebung ins französische Rennes gecharterten Airbus. „A junbo jet, a fleet of buses and dozens of staff – all to deport one person, with no right to remain in the UK, back to France,” umriss der britische Journalist Paraic O’Brien in einem Beitrag für die Website des Senders Channel 4 die Absurdität dieser Aktion.

Wie das migrationspolitische Portal InfoMigrants berichtet, war der Passagier ein 27 Jahre alter Sudanese namens Ismail, der über Tschad, Libyen und Italien nach Frankreich gelangt war und dort u.a. im Jungle von Calais gelebt hatte. Offenbar weil die französischen Behörden ihm eine tschadische Nationalität unterstellten, scheiterte sein Anerkennungsverfahren und er setzte schließlich per Boot nach Großbritannien über. Nach seiner Abschiebung drohte ihm eine zweite Abschiebung nach Afrika, gegen die sein Anwalt Rechtsmittel einlegte. Von Ismail selbst ist ein einer Reportage von Channel 4 der Satz zu hören: „I will go back to the UK“.

Während dieser Fall in der britischen und französischen Öffentlichkeit – nicht zuletzt wegen der vermuteten Kosten von rund 30.000 britischen Pfund – als Skandal wahrgenommen wurde, macht die britische Regierung „linke Anwälte“ für das Scheitern geplanter Abschiebungen verantwortlich, die damit mehr und mehr in den Fokus rechter Mobilisierung geraten.

Es erscheint also eher unwahrscheinlich, dass es bis Jahresende tatsächlich 1.000 „Sillath“-Abschiebungen geben, und wenn doch: dass von ihnen der erwartete Abschreckungseffekt auf potenzielle Channel crossers ausgehen wird. Für die Betroffenen gleicht die Operation eher den Schikanepraktiken, mit denen die französischen Behörden möglicht viele Bewohner_innen der Calaiser Camps jüngst in ganz Frankreich verteilt haben (siehe hier), wohl wissend, dass die meisten von ihnen zurückkehren und erneut versuchen werden, den Kanal zu passieren.