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Channel crossings & UK

Ein Rekordwert in toxischer Umgebung

In der ersten Jahreshälfte überquerten rund 20.000 Menschen den Ärmelkanal in unsicheren Schlauchbooten. Es ist der höchste Wert, der für diesen Zeitraum je registriert wurde, aber die Entwicklung war seit Monaten absehbar. Parallel dazu zeichnet sich ab, dass die extreme Rechte die small boats für ihr Vorhaben nutzen wird, an die politische Macht im Vereinigten Königreich zu gelangen – eine noch vor Monaten nur schwer vorstellbare Situation.

Ende Juni beschrieb die NGO Osmose 62 eine dramatische Situation im Küstengebiet von Boulogne-sur-Mer. Dort brachen bestens ausgestattete Segelyachten zum Course des caps auf, um den Ärmelkanal zu überqueren und die britischen Inseln zu umrunden. „Zur gleichen Zeit kämpfte nur wenige Meilen entfernt ein anderes Boot darum, sich über Wasser zu halten, an Bord Frauen, Männer, Kinder.
Keine Sponsoren, keine Scheinwerfer – nur Angst, Hoffnung und die an einem viel zu zerbrechlichen Rumpf hängenden Leben.“

An diesem Tag, dem 29. Juni 2025, trafen nach mehrtägiger Unterbrechung acht Schlauchboote mit 585 Menschen in britischem Hoheitsgebiet ein. Einen Tag später waren es dreizehn Boote mit 879 Menschen, einer der höchsten Werte in diesem Jahr. Als die britischen Behörden am 1. Juli weitere acht Boote mit 440 Menschen registiert, stieg die Zahl der Passagier_innen seit Jahresbeginn auf 20.422, die der Boote auf 351.

Damit verstetigt sich eine Entwicklung, der seit einigen Monaten zu beobachten ist (siehe hier, hier, hier und hier) und durch die Witterungsbedingungen begünstigt wurde. Zum Vergleich: Zwischen dem 1. Januar und 30. Juni der Vorjahre erreichten 5.917 (2021), 12.747 (2022), 11.433 (2023) bzw. 13.489 (2024) Menschen britisches Hoheitsgebiet auf Schlauchbooten. Der Anstieg gegenüber dem Vorjahr 2024 beträgt 48 %. Die meisten Passagier_innen kamen aus Afghanistan, Syrien, Eritrea und dem Iran.

Sollte sich die Entwicklung der ersten Jahreshälfte fortsetzen und in der zweiten Jahreshälfte einen ähnlichen Verlauf nehmen wie in den Vorjahren, so dürfte 2025 das Jahr mit den bislang meisten Bootspassagen auf der Kanalroute werden.

Runde Zahlen wie die nun überschrittene Marke von 20.000 Personen dienen immer auch als politisches Symbol, das von der konservativen und extremen Rechten gern benutzt wird, um die Migration auf der Kanalroute alarmistisch zu überzeichnen. Dafür ist der Zahlenwert weniger ausschlaggebend als das scheinbare Überschreiten einer Grenzmarke: in den Anfangsjahren der Kanalroute wurden bereits sehr viel kleinere Werte im Hunderter- oder Tausenderbereich auf eine identische Weise inszeniert. Das in Wirklichkeit Beunruhigende sind auch nicht die Passagierzahlen, die auch heute noch nur einen Bruchteil der Migration nach Großbritannien ausmachen und meist in der Zuerkennung eines Aufenthaltstitels münden, sondern die gestiegenen Risiken für Leib und Leben. Lag die Zahl der Passagier_innen pro Boot in der ersten Jähreshälfte 2021 noch bei 21, stieg sie im gleichen Zeitraum der folgenden Jahre auf auf 35 (2022), 44 (2023), 50 (2024) auf 58 (2025) an.

Die aktuellen Passagierzahlen düften der extremen Rechten willkommen sein, die inzwischen eine Übernahme der Regierungsmacht anstrebt. Seit Jahresbeginn ist Reform UK von Nigel Farrage diejenige Partei, der die meisten Brit_innen laut Meinungsumfragen ihre Stimme geben würden; dabei gleichen ihre Umfragewerte denen der deutschen AfD. Zum gleichen Zeitraum büßte Labour massiv an Zustimmung ein, während die weit nach rechts gerückten Tories weiter erodierten. Allein die extreme Rechte füllt bislang die entstandene Lücke.

Ende April gewann Reform UK die absolute Mehrheit im County Counsil der Grafschaft Kent, dem geographischen Gegenpart zu Calais und Dunkerque, wo sie bis dahin nur eine Splitterpartei gewesen war. Ähnlich katastrophale Erfolge erzielte die Partei in mehreren anderen Grafschaften. Zu Jahresbeginn hatte eine internationale Symbolfigur des neuen Rechtsextremismus, der Unternehmer Elon Musk, ein finanzielles Investment in Reform UK mit dem Ziel angekündigt, die Partei an die Macht zu bringen, auch wenn danach Differenzen mit Farrage sichtbar wurden. Anfang März antwortete Musk mit einem schlichten „Yes“ auf folgenden Tweet eines Reform UK-Politikers: „We need to get real. Honestly, every single one of these fake asylum seekers needs to be immediately deported. I do NOT want these men in our country, and I make NO apologies for stating that. This has gone on for too long. Detain, deport. This is the ONLY way.“

Es ist also absehbar, dass die Geflüchteten zum Gegenstand einer umso toxischeren Kampagne gemacht werden, je realistischer die extreme Rechte ihre Machtoption einschätzt oder falls die Labour-Regierung, aus welchen Gründen auch immer, in eine politische Krise gerät. Vor diesem Hintergrund dürfte die Londoner Regierung den britisch-französischen Gipfel in der kommenden Woche als innenpolitische Bühne nutzen, um Entschlossenheit zu demonstrieren, und weitere Ressourcen zur Bekämpfung der Migrationsroute über den Ärmelkanal mobilisieren.