Interview mit den Human Rights Observers zur Lage der Menschenrechte in Grande-Synthe
Neben Calais ist Dunkerque der zweitwichtigste französische Hafen mit Fährverbindungen nach Großbritannien. Daher gibt es auch dort seit Langem informelle Camps, in denen früher fast ausschließlich irakische und iranische Kurd_innen, später auch Geflüchtete auf Afghanistan und anderen Ländern lebten. Die meisten Camps befinden sich in Grande-Synthe, einer benachbarten Kleinstadt. Der damalige grüne Bürgermeister Damien Carême hatte dort 2016 das Gelände La Linière für den Bau eines „humanitären Lagers“ bereitgestellt, das von vielen als positive Alternative zum Calaiser Jungle wahrgenommen wurde. Nach einem Brand, der das Lager im April 2017 fast vollständig zerstörte, wurde es geschlossen, doch siedelten sich im Winter 2019/20 einige hundert Migrant_innen in den baufälligen Ruinen von La Linière an, bis diese im Juni 2020 erneut geräumt wurden (siehe hier). Wie bereits früher, dient heute ein weitläufiges Erholungs- und Naturgebiet namens Puythouck als Lebensort der Menschen on the move. In der Öffentlichkeit wurden und werden sie viel weniger wahrgenommen als die Geflüchteten in Calais. Auch auf unserem Blog sind sie in den vergangenen Moanten weitgehend aus dem Blick geraten. Wir haben daher die Initiative Human Rights Observers, die seit drei Jahren die Entwicklung in Calais und Grande-Synthe verfolgt (siehe hier, hier und hier), um eine Einschätzung gebeten. Im Mittelpunkt des schriftlich geführten Interviews stehen die Menschenrechtslage und das Polizeiverhalten.
(English version below.)
Welche Menschen leben zur Zeit in den Camps von Grande-Synthe?
Die gegenwärtige Bevölkerung der Camps von Grande-Synthe setzt sich im Allgemeinen aus Leuten aus Iran, Irak, Kurdistan, Pakistan, Kuwait und Afghanistan zusammen. Diese Bevölkerung umfasst eine Reihe von Familien und nach Angaben von Utopia 56 mindestens 37 unbegleitete Minderjährige.
Im Frühjahr lebten die Exilierten vor allem an zwei Plätzen: den Ruinen von La Linière und im Gebiet von Puythouck. Anfang Juni räumten die Behörden La Linière und blockierten den Zugang. Wie hat sich die Situation danach verändert? Und wie ist sie heute?
Im Anschluss an die Räumung, Demontage und Sicherung des Geländes von La Linière im Juni befanden sich die Exilierten in Grande-Synthe in größerer Prekarität. Die Behörden entfernten den Abfallcontainer und die Sanitäranlagen, die in La Linière kurzzeitig eingerichtet worden waren, aber ließen eine einzelne Wasserstelle übrig. Allerdings machte die Lage dieser Wasserstelle überhaupt keinen Sinn und zwang die Leute, lange Strecken zu gehen, und zwar sowohl über privates Land als auch über Baustellen mit gefährlichen schweren Maschinen. Die Leute leben heute auf bewaldeten Flächen, die Gegenstand häufiger und systematischer Räumungen sind (ungefähr 36 seit der Räumung von La Linière). Die Lebensorte werden von den Behörden außerdem systematisch abgeholzt, um zu verhindern, dass Leute dort leben; den Verteilungsdiensten [für Mahlzeiten, Lebensmittel usw., d. Red.] wurden in den letzten Wochen außerdem der Zugang zu diesen Lebensorten verwehrt oder stark erschwert.
Eure Gruppe, die Human Rights Observers, beobachtet und dokumentiert das Verhalten der Polizei und die Menschenrechtslage seit drei Jahren. Was findet ihr in Grande-Synthe vor?
In Grande-Synthe sind wir Zeug_innen einer Politik des Machtmissbrauchs und der Gewalt durch Vollzugsbeamte. Die Räumungsoperationen in Grande-Synthe bestehen darin, dass die Bewohner_innen bei drohender Festnahme durch die Grenzpolizei gezwungen werden, in Busse steigen, die sie dann in „Unterbringungszentren“ überall im Land transportieren – diese Orte sind ziemlich armselig und völlig ungeeignet, um schutzbedürftige Menschen zu beherbergen. Zurückgelassene persönliche Sachen, Zelte und Lebensmittelvorräte werden entweder an Ort und Stelle von den Vollzugsbeamten zerstört (manchmal sind es CRS-Beamte mit Messern) oder in einen Müllcontainer geladen und entsorgt. Vor den Operationen findet keinerlei soziale Bewertung statt, und die Leute in Busse zu zwingen an sich bereits ist illegal.
Neben den Räumungen gibt es zahlreiche Berichte über Polizeigewalt: alles vom Verspotten der Bewohner während ihres Abfilmens mit privaten Smartphones über die Zerstörung von Lebensmittelvorräten und persönlichen Sachen bis hin zu Tränengas, Pfefferspray und physischen Attacken ohne vorausgegangene Provokation.
Außerdem gibt es eine systematische Politik willkürlicher Festnahmen: Die Grenzpolizei durchstreift fast jeden Morgen das Gebiet und führt Identitätskontrollen durch, die anscheinend auf racial profiling beruhen. Wer nachweisen kann, dass er vor kurzem schon einmal festgenommen worden ist und die Ausweisungsverfügung für Frankreich erhalten hat, wird nicht noch einmal festgenommen; wer solche Nachweise nicht erbringen kann, wird festgenommen, auf die Polizeistation gebracht und normalerweise am nächsten Tag wieder entlassen oder für das weitere Verfahren in ein Haftzentrum gebracht.
Bis 2019 war Damien Carême Bürgermeister von Grande-Synthe. Sein Umgang mit den Camps und ihren Bewohner_innen wurde von vielen in Frankreich als positives Modell angesehen. Sein Nachfolger Martial Bayaert verfolgt eine andere Politik. Was ist heute anders als zur Zeit Carêmes?
Martial Bayaert arbeitet Hand und Hand mit dem Präfekten, aber beide Bürgermeister haben Räumungsverfügungen unterzeichnet und mit den Vollzugsbehörden zusammengearbeitet, um die in den informellen Ansiedlungen der Gegend lebenden displaced people zu schikanieren und zu zermürben.
Wie in Calais, so gibt es auch in Grande-Synthe humanitäre und politische Solidarität mit den Exilierten. Was, glaubt ist, ist in dieser Hinsicht am dringensten?
Die humanitären Hilfsorganisationen, mit denen wir in Grande-Synthe Kontakt haben, sind Refugee Women’s Centre, Solidarity Border, Project Play, Refugee Community Kitchen, Refugee Infobus und Mobile Refugee Support. Diese sind besser als wir in der Lage, den humanitären Bedarf einzuschätzen. Im Sinne politischer Solidarität ermutigen wir Organisationen bzw. Communities, von der französischen und britischen Regierung ein Ende ihrer gegen die Fixierungspunkte [Bezeichnung der französischen Behörden für die Verstetigung der Camps, d. Red.] gerichteten Politik der Schikane und Zermürbung zu verlangen, und sich an die internationale Gemeinschaft zu wenden, um die hier stattfindende systematische Verletzung der Menschenrechte anzuprangern.
English version
What people live in the camps of Grande-Synthe?
The present population in Grande-Synthe is generally made up of displaced people from Iran, Iraq, Kurdistan, Pakistan, Kowait, and Afghanistan. This population includes a number of families and at least 37 unaccompanied minors accoridng to Utopia 56.
In the spring, the exiles lived mainly on two sites: the ruins of La Linière and the area of Puythoek. At the beginning of June, the authorities cleared La Linière and blocked access. How did the situation change afterwards? And what‘s the situation today?
Following the eviction, dismantling, and securitisation of the La Liniere site in June, the population in Grande Synthe found themselves in greater precariousness. Authorities removed the skip and the sanitation facilities that had been put in place at La Liniere briefly, but left a sole water point. However the location of this water point didn’t make any sense and forced people to walk large distances and through both private land and land under construction with dangerous heavy machinery. They now live in wooded areas which are subject to frequent and systematic eviction (approximately 36 since the eviction of La Liniere). The places of life are also systematically deforested by auhtorities to prevent people living there and access to living sites for distribution services has in recent weeks been blocked or severely hampered.
Your group, the Human Rights Observers, has been observing and documenting the behaviour of the police and the human rights situation for three years. What do you find in Grande-Synthe?
In Grande-Synthe we are witness to a policy of abuse and violence by law enforcement. The eviction operations in Grande-Synthe consist in forcing inhabitants onto buses at risk of arrest by the border police, which transport them to ‘accommodation centres‘ around the country – these places are extremely squalid and entirely unsuitable to house vulnerable people. Personal items, tents, and food supplies left behind are either destroyed on site by law enforcement (sometimes CRS officers with knives) or loaded into a skip and thrown away. No social evaluation takes place before the operation and the forcing of people onto the buses is itself illegal.
Outside of evictions we have numerous reports of police violence: everything from police ridiculing inhabitants whilst filming them with personal phones to destroying food supplies and personal items to teargas, pepperspray, and physical attacks without provocation.
There is also a systematic policy of arbitrary arrest: the border police maraude the area almost every morning and conduct identity controls seemingly base on racial profiling. Those who have proof that they have recently been arrested and issued with an obligation to leave France are not re-arrested; those who can provie no such proof are arrested and taken to the police station and usually released the next day or then taken to the detention centre for administrative processing.
Until 2019, Damien Carême was the mayor of Grande-Synthe. The way he dealt with the camps and their inhabitants was regardes for many in France as a positive model. His successor, Martial Bayaert, pursues a different policy. What is different today than during Carême‘s time?
M. Bayaert works hand in hand with the Prefet, but both mayors signed requests for evictions and worked with law enforcement to harass and exhaust displaced people living in informal settlements in the area.
As in Calais, there is also humanitarian and political solidarity with the exiles in Grande-Synthe. What do you think are the most urgent things to do?
The humanitarian aid organisations we have contact with in Grande-Synthe are: Refugee Women’s Centre, Solidarity Border, Project Play, Refugee Community Kitchen, Refugee Infobus, Mobile Refugee Support. They are more able to assess humanitarian needs.
In terms of political solidarity, HRO encourages organisations/communities to petition the French and British governments to end the policy of harassment and exhaustion aimed at avoiding fixation points, and to appeal to the internationl community to denounce the systematic violation of Human Rights taking place here.