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Zu den Toten von Loon-Plage und Sangatte

Wie inzwischen bekannt wurde, starben bei dem Bootsunglück am 27. Oktober im Ärmelkanal vor Loon-Plage (siehe hier) mehr Personen als zunächst angenommen: nicht vier Menschen, sondern sieben. Auch über den am 18. Oktober am Strand von Sangatte tot aufgefundenen Mann (siehe hier) ist inzwischen Näheres bekannt. In Grande-Synthe, wo offenbar alle diese Menschen gelebt hatten, hat es unterdessen wieder eine gewaltsame Räumung gegeben.

Wie die Zeitung La voix du Nord meldete, hat die Staasanwaltschaft von Dunkerque am 30. Oktober einen iranischen Mann wegen der Schiffskatastrophe angeklagt. In diesem Zusammenhang nannte die Behörde auch die Zahl von sieben Todesopfern: einer fünfköpfigen Familie mit ihren 15 Monate, fünf Jahre und acht Jahre alten Kindern sowie zweier weiterer Erwachsener. Die Vermutung, dass bei dem Unglück weitere Menschen ums Leben gekommen sein könnten, hat sich damit bestätigt.

Die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen den iranischen Mann lautet auf fahrlässige Tötung und umfasst einige weitere Delikte in Bezug auf die Gefährdung von Personen und die Mitwirkung an einer organisierten Schleusung. Dabei stützten sich die Behörden auf Angaben von Überlebenden, dass der Mann das Boot gesteuert und mit Schmugglern zu tun gehabt habe. Die bisher bekanntgegebenen Angaben hierzu sind vage und lassen vermuten, dass die Anklage vor allem als Ansatzpunkt für Ermittlungen gegen die eigentlichen Schmugglernetzwerke dient.

Die migrantischen Camps in Grande-Synthe, wo die verstorbene Familie mit ihren Kindern gelebt hatte, waren am 30. Oktober Ziel einer groß angelegten Räumung. „More than 100 tents seized this morning. People are left with nothing for shelter. The violation of fundamental rights is the norm at this border,“ schrieb die Initiative Human Rights Observers. Ein von ihr aufgenommenes Foto zeigt unter den Polizeibeamten einen Mann mit einem Messer am Gürtel, wie es eingesetzt wird, um während einer solchen Räumung Zelte zu zerstören.

Wahrscheinlich stand die Räumung in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Tod der Migrant_innen. Sie war viel eher Teil einer etablierten Routine (siehe hier), die auf Zermürbung zielt und gelegentlich als humanitäre Maßnahme zum Schutz der Betroffenen legitimiert wird. Wird ein solcher Gewaltakt aber am dritten Tag nach dem Tod einer ganzen Familie und weiterer Menschen vollzogen (über den zu diesem Zeitpunkt zahlreiche internationale Medien berichteten), so wird sie zu einem Akt der politischen Kommunikation. Er besagt: Es gibt kein Innehalten, kein Zugeständis von Trauer, kein auch nur vorübergehendes Aussetzen oder Abmildern der Gewalt nach der Katastrophe. (Und außerdem: Es gibt dies auch nicht, wenn am gleichen Tag das zweite Confinement, also die französischen Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, beginnt.)

Inzwischen konnte auch der Mann identifiziert werden, der anderthalb Wochen vor dem Schiffsunglück ertrunken am Strand von Sangatte aufgefunden worden war. Medienberichten zufolge hatte die zivilgesellschaftliche Flüchtlingshilfe einen in Grande-Synthe lebenden Freund des Verforbenen ausfindig gemacht, der ihn als Behzad Bagheri-Parvin, einen 32 Jahre alten iranischen Staatsbürger identifizierte. Dieser hatte nach Angaben der Staatsanwaltschaft von Boulogne-sur-Mer beabsichtigt, den Kanal allein in einem kleinen Boot zu überqueren. Auch er hatte in den Camps von Grande-Synthe gelebt.

Räumung in Grande-Synthe am 30. Oktober 2020. Die Markierung zeigt ein Messer, wie es zum Zerstören von Zelten verwendet, aber nur selten bildlich dokumentiert wird. (Foto: Human Rights Observers)