Kurz vor dem Ende der Brexit-Übergangsphase hat die Entwicklung der Corona-Pandemie in Großbritannien überraschend zu einer weitgehenden Schließung der britischen Grenze für den (legalen) Personenverkehr zwischen dem europäischen Festland und den britischen Inseln geführt. Auch Frankreich hat den Grenzverkehr für Personen (zunächst) für zwei Tage, den 21. und 22. Dezember, unterbrochen. Das kontinentaleuropäisch-britische Grenzregime steht damit im Kontext einer multiplen Krise: Versorgungsengpässe und Überlastungen der Verkehrsinfrastrukturen aufgrund des Brexit fallen zeitlich mit einer katastrophischen Dynamik des Seuchengeschehens zusammen; der disruptive Abbruch der Verkehrsflüsse trifft auf eine politisch skandalisierte Migration. Diese wiederum scheint sich momentan von den Bootspassagen wieder stärker zum Frachtverkehr zu verlagern, worauf die französischen Behörden vor allem gewaltsam reagieren. Es ist noch zu früh, um diese Dynamiken präzise beschreiben zu können. Aber es gibt einen Indikator, der zumindest eine vorläufige Skizze erlaubt: Staumeldungen.
Staumeldungen
In verkehrsreichen Zeiten passieren täglich etwa zehntausend Lastwagen Calais im Transitverkehr nach Großbritannien. Nachholende Importe infolge des Frühjahrs-Lockdowns und vorgezogene Bestellungen aus Furcht vor künftigen Zöllen sowie zum Überbrücken erwarteter Engpässe ab dem 1. Januar führten seit November zu massiven Rückstaus auf den Autobahnen zum Kanaltunnel und zum Fährhafen – am stärksten mittwochs und donnerstags.
Einen Eindruck hiervon gibt eine typische Meldung der Lokalzeitung La voix du Nord vom 17. Dezember: Demnach habe es an diesem Donnerstagmorgen mehrere bis zu acht Kilometer lange große Staus auf der Autobahn A 16 gegeben. Viele Migrant_innen hätten versucht, sich in den Lastfahrzeugen zu verstecken, ebenso wie in jeder anderen Situation der Verkehrsüberlastung in den Wochen zuvor. Die Wiederkehr der Situation an jedem Mittwoch und Donnerstag zu betonen, war dem Blatt wichtig.
Die Problematik hat Auswirkungen über Calais hinaus und lässt sich als eine funktionale und räumliche Ausweitung des Grenzregimes begreifen, indem ein Teil der Kontrollen in das Hinterland der Grenze, und zwar auf die Anfahrtswege (Autobahnen A 16, A 25 und A 26), verlagert wird. Die zuständige Präfektur erstellte mit Blick auf den Brexit zu diesem Zweck einen Verkehrsmanagementplan mit vorgelagerten Kontrollen der Frachtpapiere, Maßnahmen zur Regulierung des Verkehrsflusses und Umleitungen für den Frachtverkehr. Wie La voix du Nord über den 16. Dezember, einen Mittwoch, berichtete, hatte ein durch diese Maßnahmen bewirkter Stau auf der A 16 zwischen Dunkerque und Calais (in Distanz zu Hafen und Tunnel) an diesem Tag zur Folge, das eine kleine Gruppe von Migrant_innen auch auf diesem Streckenabschnitt, bei Saint-Georges-sur-Aa, ihre Chance suchte.
Dem französische Portal InfoMigrants zufolge versuchten im Dezember täglich „Hunderte von Exilierten“, auf diese Weise Großbritannien zu erreichen, wobei die Erfolgsaussichten nach Ansicht der lokalen Rechtshilfe Cabane juridique momentan vergleichsweise günstig seien. Während die Polizeibehörden von einem teils gewalttätigen Vorgehen der Migrant_innen sprächen, seien diese ihrerseits einer massiven Polizeipräsenz ausgesetzt. So habe es allein am 16. Dezember mehr als 2.300 Interventionen der Polizeieinheit CRS gegen Migrant_innen auf der Autobahn in der Nähe des Kanaltunnels gegeben. Die Aufstockung der Polizei habe nach Auskunft der Cabane juridique einen „Ausbruch von Gewalt“ bewirkt. Die Beamt_innen setzten neben Schlagstöcken auch CS-Gas und freigelassene Hunde ein. Dokumentiert wurden u.a. Verletzungen durch Hundebisse, Wunden infolge von Schlägen und Augenverletzungen durch CS-Gas, die eine Krankenhausbehandlung erforderlich machten. Angaben von Exilierten wiesen darauf hin, dass bereits die bloße Anwesenheit am Rand der Autobahn solche Gewaltakte provozieren könne.
Unserem Blog gegenüber bestätigte die Initiative Human Rights Observers die Zunahme der Gewalt und den Einsatz von CS-Gas und Hunden, insbesondere an der A 16 in der Nähe des Kanaltunnels. Auch der Tod von Mohamed Khamisse Zakaria, einem jungen Mann aus dem Sudan, ereignete sich am 19. November 2020 dort in einer solchen Situation. In einer Erklärung seiner Weggefährten heißt es: „Mohamed wurde von einem Auto angefahren, als er versuchte, CS-Gas von Polizisten von dem Heck eines LKWs aus zu entgehen“ (vollständiger Text hier).
Unterdessen ist die Zahl der Bootspassagen im Dezember bislang vergleichsweise gering. Trotz der erfolreichen Passage von 111 Personen am 7. Dezember waren es bis Mitte Dezember deutlich weniger als 200 – verglichen mit knapp 800 im November. Ob dies einen Trend hin zu einer stärkeren Nutzung des Frachtverkehrs andeutet, bleibt allerdings abzuwarten.
Die Grenzsperrung
Nach der Grenzsperrung am 21. Dezember haben sich vor allem in Großbritannien chaotische Verkehrssituationen ergeben. Für Calais gilt dies nicht. Wie La voix du Nord am ersten Tag der „Blockade“ berichtet, finde der Fährverkehr zwischen Calais und Dover weiterhin statt, nicht jedoch in die umgekehrte Richtung, es sei denn, es handle dich um Anhänger ohne Fahrer. Bis auf weiteres könne man eine Fähre zur britischen Küste nehmen, zunächst aber nicht wieder zurückkehren. Beobachtungen vor Ort hätten ergeben, dass der Verkehr an den Zufahrten zum Fährhafen und zum Kanaltunnel reibungslos laufe; Staus hätten sich nicht gebildet. Der Betreiber einer Fährlinie habe angegeben, dass viele Lastwagenfahrer_innen umkehrten, um nicht in Großbritannien festzusitzen; der Parkplatz des Fährterminals in Calais sei leer. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals hingegen sei die Überlastung mitunter so stark, das es nicht möglich sei, einen im Hafen eingetroffenen Anhänger abzuholen. Ebensowenig sei der Kanaltunnel auf französischer Seite geschlossen, der Verkehr finde aber auch hier nur von Frankreich nach Großbritannien statt.
Angesichts der ungewissen Situation, so die Zeitung weiter, reduzierten französische Spediteure die Anzahl der Fahrten nach Großbritannien momentan stark. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass nach der Aufhebung der Blockade mit einem umso stärkeren Verkehrsaufkommen zu rechen sei, also mit neuen Staumeldungen und Migrationsgelegenheiten.
Welchen Folgen die Grenzschließung darüber hinaus für die Exilierten, aber auch für die teils von britischen Staatsbürger_innen getragene Flüchtlingshilfe, haben wird, bleibt offen. Abschiebungen aus Großbritannien in die EU, wie sie seit dem Sommer vor allem für die Bootsmigrant_innen forciert werden (siehe hier), dürfte es unter diesen Umständen vorläufig nicht mehr geben.