Nach der Havarie, durch die am 12. August ein Bootspassagier starb (siehe hier), wurden nun einige Details über das Unglück und über den Umgang mit den Geretteten bekannt: Bei dem Opfer handelte es sich um einen 27jährigen Mann aus Eritrea. Bestätigt haben sich die am Tag des Unglücks veröffentlichten Meldungen über den Ablauf der Rettungsaktion. Allerdings veröffentlichte die Organisation Utopia 56 Schilderungen über den Umgang mit den Geretteten, die der behördlichen Darstellung widersprechen, man habe sich um die Menschen gekümmert.
Wie in solchen Fällen üblich, wurde der Rettungseinsatz durch die französische Überwachungs- und Rettungsleitstelle CROSS von Gris-Nez koordiniert. Die Lokalzeitung La voix du Nord fasste den Ablauf am folgenden Tag zusammen: „Gestern Morgen wurde die CROSS Gris-Nez darüber informiert, dass mehrere Migrantenboote in der Meerenge von Pas-de-Calais in Schwierigkeiten geraten waren. Gegen 10 Uhr wurde die CROSS von dem Frachtschiff Elena kontaktiert, das ein Boot mit etwa vierzig Migranten in Seenot meldete, von denen einige über Bord gegangen waren, etwa 13 Seemeilen (24 Kilometer) vor Dunkerque. Sie leitete eine Such- und Rettungsaktion ein, die mit erheblichen Mitteln unterstützt wurde. Beim Eintreffen am Einsatzort informierte der NH90-Hubschrauber die CROSS, dass das Boot gesunken war. Der Hubschrauber hob mehrere Schiffbrüchige an Bord und brachte sie an Bord der Flamant [Patrouillenboot der französischen Marine] sowie auf zwei Fischerboote. Weitere Schiffbrüchige wurden von der Nicolas Jérémy und der Notre-Dame de Boulogne geborgen. Das Rettungsboot des Frachtschiffs Elena barg eine bewusstlose Person und brachte sie auf die Flamant. Der Schiffbrüchige wurde mit einem Hubschrauber in das Krankenhaus von Calais gebracht, überlebte aber leider nicht. Die Staatsanwaltschaft Dünkirchen hat ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags, Gefährdung des Lebens anderer und Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt eingeleitet.“
Der französische Blog InfoMigrants veröffentlichte weitere Details, die von der Utopia 56 nach der Ankunft der Geretteten am Hafen von Dunkerque dokumentiert worden waren. Nikolaï Posner von Utopia 56 berichtete demnach, dass „die See sehr heftig“ gewesen sei und es „große Wellen“ gab. „Der Motor blieb stehen, das Boot begann zu sinken; einige Männer sprangen dann ins Wasser; sie warfen all ihre Habseligkeiten ins Wasser, um zu versuchen, das Boot leichter zu machen.“ Als Utopia später am Hafen von Dunkerque ankam, „trafen wir eine eritreische Frau, die uns sagte, dass ihr Freund ins Wasser gesprungen sei, sie aber nicht wisse, wo er sei. Wir haben die Behörden informiert. Wir haben gehört, dass eine Leiche gefunden worden ist. Die Frau kam in das Krankenhaus in Calais. Dort konnte sie die Leiche ihres Freundes identifizieren.“
Nach ihrer Ankunft in Dunkerque wurden die Geretteten nach Angaben der Seepräfektur durch den Rettungsdienst und die Grenzpolizei versorgt. Dem widersprach Posner vehement. Es habe dort keinerlei Unterstützung gegeben. „Unter den geretteten Personen waren auch Minderjährige. Niemand hat sich um sie gekümmert. Es hat Pflichtverletzungen gegeben“, so Posner gegenüber InfoMigrants. In einem Tweet bekräftigte Utopia 56: „Keine Unterstützung durch die Präfektur, keine Informationen, Frauen, Männer und Kinder kehren auf der Straße zurück in die Camps von Calais und Grande-Synthe.“
Im Hafen von Dunkerque sahen die Teams von Utopia 56 aus Grande-Synthe […] die zuvor geretteten Menschen von einem […] Boot steigen. Einige von ihnen hatten nasse Kleidung und nackte Füße. Unsere Freiwilligenteams gaben ihnen Schuhe und begleiteten die unter 18-Jährigen, die sich selbst überlassen waren, zu den Kinderschutzdiensten, damit sie für die Nacht betreut werden konnten. Die anderen, für die keine Unterstützung vorgesehen war, kehrten in die unhygienischen Lager in Grande-Synthe und Calais zurück. In einem zweiten Schritt wurden die Mitpassagiere von M. [dem Verstorben] von der Grenzpolizei festgenommen: Der französische Staat leitete ein Verfahren wegen ‚fahrlässiger Tötung‘ und ‚Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt‘ gegen diejenigen ein, die diese Überfahrt organisiert haben sollen. Als die Polizei und die Feuerwehr abrückten, blieben vier Frauen, ein Mann und vier Kinder auf dem Kai des Hafens zurück. Unter ihnen war M.s Begleiterin. Sie wusste nicht, wo er war und wie es ihm ging.
Erklärung von Utopia 56 am 16. August 2021.
Dort, an den prekären Lebensorten der Migrant_innen dauern die Räumungen nach wie vor an. Allein im Laufe der Woche, in der sich die Havarie ereignete, dokumentierten die Human Rights Observers nicht weniger als 20 Räumungen in Grande-Synthe und Calais.
Der Tod des eritreischen Passagiers war der erste bekannt gewordene Todesfall bei einer Bootspassage des Ärmelkanals in diesem Jahr (zu einem Vermisstrenfall im März siehe hier, zu den Fällen u.a. hier). Insgesamt ist es der 302. dokumentierte Todesfall im Kontext der klandestinen Einreise von Frankreich und Belgien nach Großbritannien. In keinem der vergangenen Jahre lag die Zahl der Todesopfer insgesamt so niedrig wie seit Jahresbeginn, während die Zahl der gelungenen Grenzpassagen noch nie so hoch war. Dennoch nimmt das Risiko, eine riskante Bootspassage nicht zu überleben, momentan zu. Ein Indiz hierfür ist der Anstieg der Rettungseinsätze: Am 11. August waren im französischen Zustündigkeitsbereich 108 Exilierte gerettet worden, die in Seenot geraten waren, am 12. August waren es sogar 164 (siehe InfoMigrants).
Über einige der Gründe hierfür haben wir wiederholt berichtet, so etwa die Verlagerung der Ablegestellen an weniger stark überwachte Küstenabschnitte, von denen allerdings eine erheblich längere Strecke zurückzulegen ist. Auf eine weitere Entwicklung weist Loan Torondel, der die Situation in Nordfrankreich seit längerem verfolgt, hin: „Meine Befürchtungen, dass es im Ärmelkanal zu schweren Unfällen kommen könnte, haben sich in den letzten Monaten verstärkt: Die Qualität der eingesetzten halbstarren Boote verschlechtert sich, die Boote sind zunehmend überladen und daher viel instabiler.“ Einmal mehr zeige sich, dass „die Strategie der Abschreckung und des Abfangens […] das Auftreten solcher Unfälle nicht verhindern kann. Es ist ein grundlegendes Umdenken erforderlich.“
Am gleichen Tag, als der eritreische Passagier starb, erreichte die Zahl der Channel crossings ein neues Maximum: Einer Meldung der BBC zufolge gelangten am 12. August 592 Menschen in 16 Booten an die englische Küste. 18 Überfahrten von 420 Personen seien gleichzeitig durch die französischen Behörden unterbunden worden.
Für den morgigen Sonntag ist in Dunkerque eine Gedenkveranstatlung für den Verstorbenen geplant (parvis des Droits de l’Hommeeine, 17 Uhr).