Nach wie vor stellen Räumungen das wichtigste Instrument der Behörden zur Zermürbung der Exilierten und zu ihrer Unsichtmarmachung im öffentlichen Raum dar. Zugleich entziehen sie ihnen in großem Umfang materielle Ressourcen und binden damit indirekt auch die Kräfte der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Dabei ist die Zahl der Exilierten, wie in jedem Sommer, gestiegen. Die dokumentarische Arbeit der Human Rights Observers erlaubt es, die Praxis des Ressourcenentzugs ungefähr zu quantifizieren.
Hatten zu Jahresbeginn schätzungsweise 650 Exilierte in Calais auf ihre Passage nach Großbritannien gewartet, waren es Anfang September nach Angaben der Präfektur 950 Personen, scheinbar also nur wenig mehr. Allerdings stehen diese offiziellen Zahlen in erheblichem Widerspruch zu der Tatsache, dass während des Sommers zuweilen einige hundert und in Einzelfällen sogar um die 800 Menschen pro Nacht in Booten nach Großbritannien übersetzten. Die Camps hätten an manchen Tagen also praktisch leer sein müssen.
Demgegenüber weist die lokale Organisation Auberge des migrants darauf hin, dass beispielsweise ein Camp mit etwa 600 bis 700 Bewohner_innen im benachbarten Coquelles in der Zählung der Prefektur überhaupt nicht vorkommt. Denn diese stütze ihre Schätzung auf die Zahl der im staatlichen Auftrag verteilten Mahlzeiten, was allerdings in Coquelles nicht geschieht. Nach Einschätzung der Auberge des migrants betrug die Zahl der undokumentierten Exilierten in Calais während des Sommers vielmehr etwa 1.500, schwankte infolge der Bootspassagen jedoch stark und stieg zeitweise auf bis zu 2.500 Personen (vgl. La voix du Nord, 6.9.2021). Auch diese Schätzung beruht u.a. auf der Anzahl verteilter Mahlzeiten, in diesem Fall allerdings durch staatsunabhängige Organisationen. Anders als die staatlich mandatierten Hilfen, eröffnet diese zivilgesellschaftliche Unterstützung außerdem den Zugang zu Subsistenzmitteln wie etwa Zelten, Decken und Schlafsäcken.
Der saisonal angestiegenen Zahl der Menschen steht ein kontinuierlicher Ressourcenentzug gegenüber, der im Medium rotinemäßiger Räumungen vollzogen wird. Wir haben diese im Turnus von maximal 48 Stunden durchgeführten Polizeioperationen wiederholt beschrieben (siehe etwa hier) und sie von selteneren Aktionen abgegrenzt, die auf die ‚Evakuierung‘ der Betroffenen (siehe zuletzt hier) oder die Schließung eines Siedlungsplatzes abzielen (siehe etwa hier). Hatten die routinemäßigen Räumungen bis April 2021 in einem für die Betroffenen recht vorhersehbaren 48-Stunden-Turnus stattgefunden (immer vormittags und meist in einer bestimmten Reihenfolge), der es ihnen erleichterte, ihren Besitz in Sicherheit zu bringen, finden sie seitdem unregelmäßiger statt und treffen die Exilierten daher unvorbereiteter. „In weniger als 48 Stunden gab es zwei Räumungsaktionen in Calais. Seit April finden diese nun auch nachmittags statt, so dass die Geflüchteten über Nacht obdachlos sind. Trotz der Wetterbedingungen wurden an diesen zwei Tagen mindestens 77 Zelte beschlagnahmt“, berichteten die Human Rights Observers beispielsweise am verregneten 8. August.
Der April markiert auch deshalb einen Wendepukt, weil allein in diesem Monat bei Räumungen mindestens 1.113 Zelte bzw. Planen beschlagnahmt wurden, nachdem es in den Monaten Januar bis März bereits zwischen 312 und 546 gewesen waren. Während ein Teil der beschlagnahmten Gegenstände kurze Zeit in einem Schiffscontainer eingelagert wird und zu knapp bemessenen Öffnungszeiten dort abgeholt werden kann, wird ein anderer Teil unmittelbar entsorgt. Der schiere Umfang der Beschlagnahmungen ließ die zivilgesellschaftlichen Organisationen im Frühjahr rasch an Kapazitätsgrenzen stoßen.
Inzwischen liegt das von den Human Rights Observers erhobene Datenmaterial für die Sommermonate vor. Demnach wurden in den Monaten Juni, Juli und August jeweils 90 bis 95 Räumungen in Calais dokumentiert, was der etablierten Routine entspricht. Nachdem die Behörden im Mai ‚nur‘ 346 Zelte (und 168 Planen) beschlagnahmt hatten, waren es im Juni 436 Zelte (und 285 Planen), im Juli 485 Zelte (und 531 Planen) und im August 404 Zelte (keine Angaben zu Planen). Die Gesamtzahl der in diesem Jahr konfiszierten Zelte liegt bei fast 4.000 (ohne Planen). Zum Vergleich: Im gesamten Vorjahr waren es etwa 2.800 (einschließlich Planen) gewesen. „In diesem Sommer sind die Zelt-Bestände der Vereinigungen am niedrigsten, was die Verteilung drastisch einschränkt“, schrieben die Human Rights Observers im Juli.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei anderen Gegenständen. So wurden im Juni 164 Schlafsäcke (plus 353 Decken), im Juli 180 Schlafsäcke (plus 286 Decken) und im August 124 Schlafsäcke bzw. Decken weggenommen. Die Zahl der beschlagnahmten Matratzen betrug im Juni 54, im Juli 84 und im August 21. An Taschen bzw. Rucksäcken wurden im Juni 86, im Juli 97 und im August 13 sowie an Fahrrädern im Juni 16, im Juli 17 und im August 19 konfisziert. Und in allen Fällen sind dies nur die von den Teams der Human Rights Observers vor Ort gesichteten Gegenstände.
Nicht in diese Zahlen eingerechnet ist außerdem Grande-Synthe bei Dunkerque, wo die Behörden eine andersartige Strategie ohne die Routineräumungen im 48-Stunden-Turnus anwenden, jedoch sehr viel radikaler Zelte und Hütten zerstören. Solche Polizeiaktionen fanden während der Sommermonate 17 mal statt, wobei insgesamt 384 Zelte und 450 Planen zerstört wurden.
Das System der Räumungen stellt sich damit immer deutlicher als ein System der Verknappung von Ressourcen dar. In den Polizeiaktionen wird eine faktische Suspendierung des zentralen Freiheitsrechts der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich des Rechts auf Eigentum, sichtbar. Die materielle Not in den Camps von Calais und Grande-Synthe ist die Kehrseite einer ungeheuren Deponie, auf der die Besitztümer und Subsistenzmittel der Exilierten als Müll abgelagert werden.