Zum zweiten Mal innerhalb von vier Wochen ist im Gewerbegebiet Transmarck bei Calais ein Geflüchteter durch einen Lastwagen ums Leben gekommen. Der Lokalzeitung La Voix du Nord zufolge starb der Mann am 21. Oktober im Krankenhaus von Calais. Am frühen Morgen desselben Tages war er nach Angaben der Staatsanwaltschaft schwer verletzt in der Nähe des Cash & Carry-Geschäfts Pidou gefunden worden. Der am Boden liegende Mann sei von der Feuerwehr der Gemeinde Marck versorgt und ins Krankenhaus gebracht worden. Zur Ermittlung der Todesursache werde noch eine Autopsie durchgeführt. Nach Angaben der zivilgesellschaftlichen Organisationen Salam und Auberge des migrants wurde der von einem Lastwagen angefahren – ähnlich wie der Jugendliche Nasser Yasser Abdallah am 28. September auf der nahe gelegenen Avenue Henri-Ravisse (siehe hier). Der jetzige Fall ist der 305. dokumentierte Todesfall im Kontext des britisch-kontinentaleuropäischen Grenzregimes.
Die Identität des Mannes, der in den Dreißigerjahren seines Lebens gewesen sein soll, ist bislang nicht bekannt. Wie immer zu solchen Anlässen, hielten die zivilgesellschaftlichen Gruppen am folgenden Tag in der Calaiser Innenstadt eine Gedenkveranstaltung ab, „um uns mit seinen Brüdern im Exil und seiner Familie zu solidarisieren und um gegen die kriminelle Natur dieser Grenze zu protestieren“ (l’Auberge des migrants). „Unsere Gedanken sind bei einem Mann, der gestern Morgen bei dem Versuch, sich ein besseres Leben aufzubauen, gestorben ist,“ erklärten die Hungerstreikenden in der Kirche Saint-Pierre.
Das Gewerbegebiet Transmarck ist auf den Lastkraftverkehr nach Großbritannien spezialisiert und gut an die Autobahn angebunden; das Geschäft Pidou, wo der tödlich Verletzte gefunden wurde, befindet sich auf der kurzen Strecke zwischen der Autobahnauffahrt Marck-Ouest und Transmarck. Dieses stark gesicherte Gewerbegebiet ersetzt frühere Infrastrukturen, die sich zunächst im Gewerbegebiet Zone des dunes in Calais konzentriert hatten. Dort hatten sich ursprünglich einige hundert Parkplätze befunden, auf denen Lastwagenfahrer_innen die Zeit bis zur Fähre zubringen, übernachten oder in gut anfahrbaren 24-Stunden-Tankstellen noch einmal tanken konnten. Das Gebiet wurde seit den 1990er-Jahren von Migrant_innen genutzt, um unbemerkt auf ein Fahrzeug zu gelangen. Die meisten Camps der letzten zwanzig Jahre befanden sich in oder bei diesem Gebiet, auch als die Parkplätze und Betriebe für den Frachtverkehr bereits geschlossen waren. Seit der Räumung des letzten dort entstandenen Jungle im Juli 2020 ist die Zone des dunes praktisch komplett durch Zäune versperrt (siehe hier). Die Verlagerung des Geschehens u.a. nach Transmarck ist einerseits die Folge dieser langfristig wirkenden Strategie der Verdrängung und Sekuritisierung.
Andererseits wies die Lokalzeitung nach dem Todesfall darauf hin, dass Transmarck seit einigen Wochen sehr viel stärker von den Geflüchteten frequentiert werde. Diese aktuelle Situation könne ein Effekt der Bootspassagen, des Übergangs zur kalten Jahreszeit und der Vergrößerung der Transmarck-Zone sein. „Die Geflüchteten sind jünger und gehen wahnsinnige Risiken ein. Sie verstecken sich hinter den Büschen […] und wenn der Lastwagen am Kreisverkehr abbiegt, klettern sie zwischen Zugmaschine und Auflieger“, zitiert La Voix du Nord einen lokalen Lastwagenuntrnehmer. Die Geflüchteten selbst hatten nach dem Tod von Yasser in zwei Erklärungen ein aggressives Fahrverhalten der Fahrer_innen angeprangert, die Geflüchtete durch bestimmte Brems- und Lenkbewegungen abzuschütteln versuchten und dabei schwere Verletzungen in Kauf nähmen (siehe hier und hier).
[Update, 30.10.2021: Lokalen Medien zufolge hat die Autopie durch das gerichtsmedizinische Institut in Lille die Vermutung bestätigt, dass der Mann beim Zusammenstoß mit einem großen Fahrzeug ums leben gekommen sein dürfte.]
[Update, 3.11.2021: Inzwischen ist die Identität des Opfres bekannt. Sein Name ist Mohammed Al-Amin, er kam aus dem Sudan.]