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Calais

Die Briefkästen der Camps

Briefkasten des Camps Old Lidl, 1. April 2022. (Foto: Human Rights Observers)

[Updated, 11. April 2022] Um die rechtliche Stellung der Exilierten in Calais zu verbessern und insbesondere den permanenten Räumungen entgegenzuwirken, hat Human Rights Observers Anfang April zu einer auf den ersten Blick skurrilen, tatsächlich aber wohldurchdachten Maßnahme gegriffen: Im Namen der Bewohner_innen statteten sie die wichtigsten inoffiziellen Lebensorte der Migrant_innen mit Briefkästen aus.

Rechtliche Erläuterung, unterzeichnet von Bewohner_innen des Camps. (Grafik und Foto: Human Rights Observers)

Auf den mit Rückendeckung zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen installierten Briefkästen war jeweils ein Schreiben angebracht, in dem namentlich genannte Bewohner_innen auf ihre Anwesenheit hinwiesen und ihr Recht einforderten, sich gegen die meist mehrmals wöchentlich durchgeführten Räumungen verteidigen zu können; hinzu kamen rechtliche Erläuterungen. Was die Aktion von den Behörden verlangten, war die Einhaltung eines rechtstaatlichen Verfahrens.

Bislang begründen die Behörden diesen Typus permanenter Räumungen damit, ein aus ihrer Sicht illegal errichtetes Camp in flagranti zu unterbinden, wofür sie eine Frist von 48 Stunden zur Verfügung haben. Über Monate und manchmal Jahre hinweg alle zwei Tage wiederholt, kommt dies einer Rechtsbeugung gleich, produziert zugleich aber einen extralegalen Status, der den Behörden in die Hände spielt: Die Bewohner_innen der Camps werden nicht nur physisch, sondern auch rechtlich unsichtbar. Die Logik der Briefkästen und des darauf angebrachten Schriftstücks mit den Namen einiger Bewohner_innen besteht darin, diese Invisibilisierung zu durchbrechen, sprich dafür zu sorgen, dass die Objekte der Räumungen wieder zu Subjekten des Rechts werden.

Räumung nach Aufstellung der Briefkästen. (Video: Human Rights Observers)

Es wird sich zeigen, ob diese rechtliche Intervention am Ende funktionieren wird. Ein am 2. April von Human Rights Observers veröffentlichtes Video (siehe oben) dokumentiert, was bei der ersten Räumung nach Aufstellung der Briefkästen geschah: Zunächst liest ein Polizist das Schriftstück, und nachdem es also zur Kenntnis genommen worden ist, geschieht das Übliche: Es wird geräumt, Zelte werden weggeschleift und eine festgenommene Person wird in ein Auto busgiert, als sei auch sie ein sperriger Gegenstand.

Weniger als eine Woche nach ihrer Aufstellung waren die Briefkästen bereits sabotiert. Wie mehrere zivilgesellschaftliche Vereine am 6. April mitteilten, hatten Unbekannte drei der acht Briefkästen komplett abgesägt, bei anderen wurden die Tafeln mit den Schriftsätzen der Bewohner_innen entfernt. Dies sei, so erklärte Human Rights Observers, zum wiederholten Male eine „Geste der Invisibilisierung von Exilierten. Eine Geste, der darauf hinausläuft, die Identität dieser Menschen zu verleugnen: Wenn man ihre Namen löscht, löscht man auch ihre Existenz.“

Nach der Zerstörung des Briefkastens des Old Lidl, 6. April 2022. (Foto: Human Rights Observers)

Gegenüber der Lokalpresse sprach Human Rights Observers von einer gezielten Handlung: „Wir wissen nicht, wer die Briefkästen abgesägt hat, aber wir können uns vorstellen, dass es kein Zufall war, da die beiden Grundstücke demselben Eigentümer gehören“. Dass die Bewohner_innen der Camps etwas damit zzu zu haben, schließt die Organisation definitiv aus.

Die Sabotage zivilgesellschaftlich geschaffener Infrastrukturen ist in Calais bereits mehrfach vorgekommen. Betroffen war beispielsweise im vergangenen Sommer ein am Rand eines Camps ohne irgendwelche Versorgungsinfrastrutkur aufgestellter Trinkwassertank (siehe hier, hier und hier).