Die Bootspassagen nach Großbritannien sind nicht nur im realen Küsten- und Seegebiet ein Konfliktfeld, sondern auch im virtuellen Raum. Momentan investiert das britische Regierung in eine mehrsprachige Social Media-Kampagne, um potenzielle Migrant_innen abzuschrecken. Zugleich wurde bekannt, dass kommerzielle Schleuser_innen auf albanischsprachigen Sozial Media-Kanälen intensiv für Bootspassagen werben; zugleich nimmt der Anteil albanischer Exilierter an den Bootspassagieren zu. Konservative und rechtspopulistische Akteur_innen greifen das Phänomen auf, um die Bootspassagen mit organisierter Kriminalität gleichzusetzen und eine moral panic zu befeuern.
„In Grande-Synthe versuchen immer mehr Albaner, den Ärmelkanal zu überqueren, um nach Großbritannien zu gelangen, angetrieben durch die bezaubernde Kommunikation der Schlepper in den sozialen Netzwerken. Doch sobald sie im Norden angekommen sind, erleben viele eine Enttäuschung“, twitterte am 1. Oktober die französische Journalistin Nemja Brahim. Sie hatte für Mediapart über die Werbestrategien kommerzieller Schleuser_innen in Albanien berichtet.
Das Phänomen der albanischen Werbekampagnen für kommerzielle Bootspassagen nach Großbriannien hat inzwischen in Großbritannien und Frankreich mediale Aufmerksamkeit erregt. Auch die rechte britische Boulevardpresse hat das Thema aufgegriffen. Die Daily Mail sah sich sogar zu einer Undercover-Recherchen in Dunkerque veranlasst: Zwei Reporter_innen gaben sich dort gegenüber einem albanischen Anbieter oder Vermittler namens „Golden Lion“ als potenzielle Kund_innen aus. Der Mann unterrichtete sie dann über den Preis und die Modalitäten. Derselbe Artikel brachten albanische Schleuser_innen mit der massiven Gewalteskalation im Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque in Verbindung (siehe hier, hier und hier), obschon sich diese Gewalt zwischen anderen Gruppen abspielte und die Reporter_innen keinen wirklichen Zusammenhang aufzeigen konnten. Wie zu erwarten, fand der Artikel über das kurze Gespräch mit dem „Golden Lion“ den Beifall konservativer und rechtsextremer Akteure in Großbritannien und Frankreich.
Die Resonanz von Rechts und Rechtsaußen sollte niemanden daran hindern, sich kritisch mit Geschäftsmodellen, Kommunikationsstrategien und Ausbeutungsmechanismen im Kontext von Migrationsdienstleistungen zu beschäftigen. Einen solchen Zugang zum Thema bietet eine Recherche von Jérémie Rochas, die am 28. Setpember 2022 im linken Online-Medium Streetpress erschien.
Wie Rochas berichtet, werden „seit sechs Monaten auf TikTok täglich Dutzende Videos in albanischer Sprache gepostet, die für ‚Reisen‘ von Frankreich nach England werben.“ Die Werbung verwende „die gleichen Marketingcodes wie die Reiseveranstalter: Idyllische Londoner Szenerie, lächelnde Gesichter auf geräumigen Booten in ruhigem Wasser, mitreißende Musik…“ Streetpress habe mindestens 58 entsprechende Accounts mit teilweise einigen tausend Followern gezählt, die „Überfahrten mit Zodiacs, Lastwagen oder Flugzeugen zu Preisen zwischen 2.000 und 12.000 £ (2.250 und 13.450 €) anbieten.“ Dabei werben Anbeiter_innen mit Botschaften wie: „Schnelle und sichere Beförderung, bester Preis auf dem Markt bei 6.000 £“, „Calais-Dover in zwei Stunden und dreißig Minuten, 1.000 % sichere Überfahrt“ oder „Heute wieder eine erfolgreich durchgeführte Überfahrt, […] es gibt täglich Abfahrten“.
Es ist nicht schwer, unter Schlagworten wie „Rruge per angli“ (Straße nach England) eine Vielzahl solcher Werbefilme zu finden. Die in diesem Beitrag abgebildeten Sxreenshots wurden am 2. Oktober aus Dutzenden ähnlicher TikTok-Posts ausgewählt. Ihre Durchsicht bestätigt die Einschätzung von Steetpress. Die Produzent_innen der kurzen Filme bestreiten nicht, dass Schlauchboote für die Überfahrt eingesetzt werden, behaupten aber absolute Sicherheit, weisen nicht auf die Gefahren hin und blenden die Situation in der nordfranzösischen Küstenregion aus. Mehrere Filme wie der oben abgebildete sprechen in Text und Grafik explizit Familien mit Kindern an.
In Albanien selbst entwickelt sich das Phänomen, so Streetpress, „zu einem unkontrollierbaren Trend. Jedes Mal, wenn ein Konto gemeldet und von der App geschlossen wird, wechseln die Schleuserernetzwerke ihre Logins, um sofort wieder aufzutauchen. Das chinesische Unternehmen kann nicht mehr mithalten.“ Mit Blick auf die große Zahl der Videos machten sich albanische Content-Ersteller inzwischen „einen Spaß daraus, die Videos der Schleuser zu parodieren. Sie prangern mit einem gewissen Zynismus den Betrug an, indem sie die Zodiacs durch Traktoren, Tretboote oder aufblasbare Schwimmreifen ersetzen.“
Streetpress zitiert die albanische Plattform Joq Albania mit der Einschätzung, die virale Verbreitung der Videos habe eine Verschiebung von der versteckten Passage der britischen Grenze in Lastwagen hin zu Booten bewirkt. „Die Zahl der jungen Menschen, die ausreisen, ist aufgrund der niedrigen Löhne und der steigenden Preise in Albanien massiv gestiegen. Joq Albania hat die Behörden immer wieder auf die tödlichen Gefahren dieser Ausreisen hingewiesen, aber niemand reagiert darauf“, erklärte ein Mitarbeiter von Joq Albania gegenüber Streetpress.
Die britische Regierung scheiterte jüngst mit dem Versuch, ein Verfahren für beschleunigte Abschiebungen von Alberner_innen zu etablieren (siehe hier). In einer Presseerklärung nach einem Treffen der britischen Innenministerin mit ihrem albanischen Amtskollegen im August kündigte die britische Seite an, ihrerseits eine Social Media-Kampagne in albanischer Sprache durchzuführen.
In der Tat führt das britische Innenministerium eine solche Kampagne durch, allerdings nicht beschränkt auf albanische Exilierte. Einem Bericht des Independent zufolge schaltert die Regierung bislang für fast 90.000 £ Werbung in den Sozialen Medien. „Migranten in Nordfrankreich und Belgien werden mit gesponsorten Facebook- und Instagram-Posts angesprochen, die Botschaften in mehreren Sprachen enthalten, darunter ‚Du kannst bei dem Versuch, nach Großbritannien zu gelangen, sterben‘ und ‚Trau den Schleuserbanden nicht‘. […] Die Posts werden von Konten des Innenministeriums auf Facebook und Instagram in Albanisch, Arabisch, Farsi, Kurdisch, Paschtu und Vietnamesisch verschickt und sind mit dem Branding der britischen Regierung versehen.“
Wer das Feld Learn more anklickt, gelangt auf eine Website der Regierung, in der u.a. auf die geplanten Deportationen von Bootspassagier_innen nach Ruanda hingewiesen wird: „Ab dem 1. Januar 2022 werden Sie für eine Umsiedlung nach Ruanda in Betracht gezogen, wenn Sie illegal in das Vereinigte Königreich eingereist sind und durch ein sicheres Land gereist sind oder eine Verbindung zu einem sicheren Land haben.“
Der Independent weist darauf hin, dass wesentliche Informationen nicht gegeben werden. So fehlt der Hinweis, dass nach einer Intervention des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und aufgrund laufender Klagen bislang keine Deportationen nach Ruanda stattgefunden haben. Ein anderer Post droht mit Gefängnis bei illegaler Einreise, obschon die Bootspassagen Asylsuchender nicht illegal sind und „die Regierung nicht bestätigt hat, ob bisher jemand auf der Grundlage des Nationality and Borders Act strafrechtlich verfolgt worden ist.“
Andere Informationen gehen an der Situation der Bootspassagier_innen vorbei. „Die verlinkte Regierungswebsite listet ‚sichere und legale Wege ins Vereinigte Königreich‘ auf, aber keiner davon gilt für Asylbewerber, die bereits Europa erreicht haben und keine nahen Verwandten in Großbritannien haben.“
Dies suggeriert eine Chancenlosigkeit für albanische Geflüchtete in Großbritannien, obschon Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach Zahlen der Regierung bei über 50 % erfolgt.
Insofern arbeiten nicht nur die albanischen Werbevidos mit unwahren Angaben. Auch die britische Antiwerbung enthält unvollständige und teils wahrheitswidrige Behauptungen. Beides ist auf seine Weise strategische Information.
Die Kampagne wurde durch die Firma Britain Thinks erstellt, die u.a. die zielgruppenspezifische Adressierung von Social media-Inhalten anbietet und bereits früher Projekte zur Post-Brexit-Migrationspolitik durchgeführt hat. Beauftragt waren, so Independent, außerdem zwei Werbeagenturen.
Nicht mehr online ist indessen eine Vorkäuferkampagne: die von der Firma Seefar (Sitz in Hongong) erstellte Website On the move (siehe hier). Die anonyme Website erweckte den Eindruck einer huanitären Organisation gleichen Namens, die jedoch nicht existiert. Sie erzeugte Angst vor dem Tod auf See, drohte mit Strafverfolgung und stellte die Aussicht auf ein Leben in Großbritannien trist dar. In humanitärem Design suggerierte sie zugleich, eine Entscheidungshilfe hinsichtlich einer Bootspassage nach Großbritannien zu vermitteln. Allerdings führte ein Link lediglich zum britischen Innenministerium. Informationen für Notfälle auf See wie etwa Notrufnummern, Links zu nautischen Daten und Hinweise auf lebensrettende Selbsthilfe fehlten gänzlich. Zugleich übte die britische Regierung indirekt Druck auf Organisationen aus, eigene Flugblätter mit diesen Informationen nicht an die Exilierten in den nordfranzösichen Camps weiterzugeben.